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Meines Bruders Moerderin

Meines Bruders Moerderin

Titel: Meines Bruders Moerderin
Autoren: Irene Rodrian
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    Der Mann, den sie sich als Opfer ausgesucht hatte, war etwa fünfzig. Deutscher, vielleicht auch Schweizer. Er sah gut aus für sein Alter. Volles Haar mit grauen Schläfen, Sonnenbrille, markantes Kinn, Ganzjahresbräune. Segelschuhe und weiße Jeans. Ein lässiges Hemd aus schwarzer Wildseide konnte die durchtrainierten Schultern nicht verbergen. Die limitierte Platinuhr an seinem Handgelenk wäre einem Amateur sicher nicht aufgefallen. Aber Barbara war Profi. Sie war erst vierundzwanzig, sie war die Beste.
    Automatisch streckte und krümmte sie die Finger, um ihre Beweglichkeit zu steigern. Barbara war nicht sehr groß, knapp eins sechzig. Schmal und dunkelhaarig. Sie fiel hier nicht auf. Geschmeidig schob sie sich zwischen den Schaulustigen hindurch, um Mr. Platin nicht zu verlieren. Plötzlich tanzten kleine Funken vor ihren Augen. Sie blieb stehen. Das Atmen machte ihr Mühe. Die Luft war gesättigt von Diesel, Feuerwerkschemie, billigen Parfums und frisch frittierten churritos .
    Das war keine gute Basis. Barbara konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal richtig gegessen hatte. Aber es war nicht nur der Hunger, sie hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Sie folgte diesem Mann jetzt schon zehn Minuten, aber das erregende Prickeln, mit dem ihr Jagdinstinkt normalerweise auf eine so viel versprechende Beute reagierte, blieb aus. Irgendetwas stimmte nicht.
    Sie überhörte die Warnsignale. Sie brauchte das Geld dringend. Mehr als dringend. Sie musste diese einmalige Gelegenheit nutzen.
    Es war der 23. Juni, San Juan. Für Barcelona die größte fiesta des Jahres. Schon jetzt, am späten Nachmittag krachten in den Nebenstraßen der Ramblas die ersten Feuerwerkskörper. Die Sonne glühte an einem wolkenlosen Himmel, Techno dröhnte vom Dach des Museums herunter. Im hämmernden Takt stießen verschieden hohe Röhren grellbunte Rauchfontänen in die Luft.
    Leichter Wind vom Meer ließ die Lichtflecken unter den gewaltigen Platanen tanzen. Die breite Allee zwischen den hohen alten Bürgerhäusern war voller Menschen. Verkaufsstände mit üppigen Blumenbergen, exotischen Vögeln in viel zu kleinen Käfigen, bunten Fischen in noch kleineren Gläsern, Zeitungen, Stadtplänen, Souvenirs. Auf beiden Seiten stauten sich die Autos, quetschten sich Mopeds und Vespas dazwischen, drängelten und schoben sich immer mehr Menschen dazu. Unten vor dem Museum hupte eine Lok aus alten Plastikflaschen schrille Kakophonien zu dem Farbhappening auf dem Dach. Der Lärmpegel war jenseits aller Messeinheiten.
    Ein rundum versilbertes Rokokopärchen erwachte zum Leben, als Mr. Platin der Dame eine Münze ins Körbchen warf. Der junge Mann zog seinen Zylinder und verbeugte sich galant, sie schenkte ihm ein Lächeln und ein Silberkügelchen. Barbara atmete aus ein, aus ein. Ruhe. Konzentration. Sie schob sich vorsichtig näher. Der Platinmann schien von der Stimmung, der Hitze, den bunten Nebelschwaden, der Musik und dem silbernen Pärchen völlig absorbiert. Auf seinem Seidenrücken erschien ein dunkler Schweißfleck und zeichnete dicke Muskelpakete nach.
    Sie durfte ihn nicht unterschätzen. Auf keinen Fall. Unter dem Hemdrand konnte sie das pralle Portemonnaie erkennen, das in seiner rechten Gesäßtasche steckte.
    Noch ein Stück näher. Zwischen ihr und Mr. Platin waren jetzt nur noch zwei ältere Engländer, die versuchten, in dem Gewühl einen neu erworbenen Stadtplan aufzufalten.
    Barbara wollte sich gerade an ihnen vorbei arbeiten, als ihr ein Junge zuvorkam. Kaum älter als zwölf, dunkle Locken und ein verwaschenes T-Shirt. Mit einem heftigen Ruck riss er der Engländerin die Handtasche von der Schulter, warf sie einem anderen Jungen zu, und beide waren in der Menge verschwunden, noch bevor die Frau zu schreien begann.
    Barbara hasste diese Typen. Dämliche Dumpfbacken, die alten Damen die Tasche wegrissen. Jetzt wurde schon mit Postern in den Hotels vor diesen sogenannten Taschendieben gewarnt. Wirklicher Taschendiebstahl war eine Kunst. Nicht die Tasche galt es zu stehlen, nur den Inhalt. Es war, als würde man dasselbe Wort für Fahrrad und Flugzeug benutzen, als würde man ein Verkehrsschild mit einem Picasso vergleichen.
    Barbara dachte an Pablo el Rey, den König der Taschendiebe. Ihren Ziehvater, Mentor und besten Freund. Er war ein Gentleman gewesen und er hatte ihr mit dem Handwerk auch die königlichen Regeln des Gewerbes beigebracht.
    Wie immer, wenn Barbara an Pablo dachte, und sie dachte täglich an ihn,
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