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Meine Spur löscht der Fluß

Meine Spur löscht der Fluß

Titel: Meine Spur löscht der Fluß
Autoren: Othmar Franz Lang
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mit Vorräten versorgte, gute Verstecke, die fürs erste Schutz boten und von einem Weißen kaum zu erkennen waren. Und dann war am nächsten Morgen zuerst Apperson gekommen, allein, und er, Ishi, hatte ihm einen Pfeil entgegengeschickt, ganz nahe, sehr schnell, knapp am Ohr vorbei.
    Apperson hatte ihn vorbeifliegen hören und den Wink verstanden. Später war er ein zweitesmal gekommen, mit den zwei Weißen vom Tag zuvor und noch ein paar anderen. Da hatte er ihn treffen wollen und verfehlt.
    »Wir kamen hier rauf«, erzählte Merle Apperson. »Wir kamen hier rauf, den Bärenpfad. Wir wollten ihnen nichts tun. Ich hab keinem Indianer etwas getan. Nie. Und die Landvermesser waren zwar rauhe Burschen, aber keine Killer. Die wollten nur echte Indianer sehen, nicht solche wie im Zirkus. Und das war ja auch der Grund, warum sie alles hier mitgehen ließen. Sie haben nicht mit Absicht gestohlen, das war nur ‘ne Art Souvenir für sie. Sie wollten ein Andenken von den echten Indianern haben. Dort in diesem Haus, da lag unter einigen Fellen ‘ne alte Frau. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihr Haar war weiß und ganz kurz, also war sie in Trauer. Ich kannte das. Und die Beine hatte sie bandagiert.«
    »Wie bandagiert?« fragte Dr. Pope interessiert.
    »Mit Hirschlederbinden, ganz exakt. Sie verstand kein Englisch. Ich versuchte es auf Spanisch. >Muy malo?< fragte ich sie. Und sie zitterte und sagte: >Malo, malo<. Mehr sagte sie nicht. Ich werde ihre Augen nie vergessen. Die Angst in ihren Augen. Dieser Blick hätte es einem Massenmörder schwergemacht, sie umzubringen. Und ich wollte sie gar nicht umbringen. Daß die Vermessungsleute alles mitgehen ließen, sogar die Lebensmittel, das war mir echt peinlich. Wirklich, echt peinlich war mir das. Ich hab’ ihnen auch gesagt, ihr könnt das nicht. Da wollten sie noch Geld dalassen. Aber was sollten die mit Geld? Die konnten doch nirgends hin. Und sogar wenn sie gekonnt hätten, sie hätten sich kaum mehr getraut. Ich hab’ drum kämpfen müssen, daß sie der Alten die Pelzdecke ließen. Ich sag’s ja, die waren wie wild auf das Zeug. Alle Körbe, alles nahmen die mit. Ein Bärenfell war auch dabei.
    Am nächsten Tag, ich weiß noch genau, es war der 11. November 1908 — ich dachte noch, der Elfte Elfte, darum hab’ ich mir das gemerkt — da bin ich nochmal hierher, ich hatte was zum Essen mit, die Alte tat mir leid. Ich dachte, sie macht’s nicht mehr lang. Sie sollte wenigstens nicht hungern. Aber da war sie verschwunden.«
    »Und Sie fanden keine Spur?« fragte Waterman.
    »Keine.«
    Oh, Mutter, dachte Ishi. Er hatte Apperson und die Leute fortgehen sehen. Oben unter der Geröllhalde hatte er gewartet, dann war er hinuntergestiegen und hatte vor der Hütte wie ein Rehkitz gewimmert, damit seine Mutter nicht erschrak.
    »Flieh«, hatte sie gesagt, »laß mich hier liegen. Laß mich hier sterben.«
    Aber er hatte nur den Kopf geschüttelt. Alles hatten die Weißen mitgenommen, sogar die Eicheln, sogar seinen Feuerdrill. Er konnte ihr nicht einmal eine Suppe kochen.
    »Ich bringe dich weg«, hatte er gesagt. Er wußte nicht, wohin, aber er wollte sie wegbringen. Hier war sie nicht mehr sicher. Und alles war seine Schuld. »Wohin soll ich dich bringen?«
    »Bring mich zum Waganupa.«
    Sie konnte nur ein kurzes Stück gehen. Dann mußte er sie tragen. Bei Einbruch der Dunkelheit waren sie aufgebrochen, und er hatte seine Mutter geschleppt, die ganze Nacht hindurch. Es hatte zu regnen begonnen, und es war ein Glück, daß sie noch die Kaninchenfelldecke hatte.
    Den Tag über hockten sie im Dorngestrüpp, und er hatte nichts in der Hand, um zu jagen, nur noch den Bogen. Er versuchte, Schlingen zu legen, aber es war vergeblich, er fing nichts. Als sie zwei, drei Tage später zu den großen Wiesen am Fuß des Waganupa kamen, begann es zu schneien.
    Sie überlebte die nächste Nacht nicht mehr.
    Heute wußte er nicht mehr, wie er das Holz zusammengetragen und wie er überhaupt ein Feuer zustande gebracht hatte. Er hatte vor Trauer keinen Schmerz gespürt. Nachdem er ihre Asche in der Nähe von drei Felsblöcken unter Steinen verscharrt hatte, reinigte er sich im kniehohen Schnee und ging mit der Felldecke zurück.
    Auf den Fluchtplätzen fand er später alle versteckten Vorräte. Seine Schwester hatte mit dem Onkel keinen von ihnen erreicht.
    Es schneite nun auch hier, und er war allein.

    »Hast du gesehen, wie er die Harpune geschnitzt hat?« fragte Merle Apperson seinen
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