Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine 500 besten Freunde

Meine 500 besten Freunde

Titel: Meine 500 besten Freunde
Autoren: Johanna Adorján
Vom Netzwerk:
meiner binnen Hundertstelsekunden bemächtigte und alles, was dann geschah, wie in Zeitlupe wahrnehmen ließ.
    Mein Schlüssel im Schloss. Die schwere Tür. Meine Schritte auf den Terracottafliesen des Hausflurs. Er hielt Post in Händen, womöglich den gesamten Stapel, der bis dahin in seinem Fach gelagert hatte, einen beträchtlichen Haufen jedenfalls. Den Drohbrief sah ich nicht, dafür einen Ikea-Katalog. Er sah auf. Unsere Blicke trafen sich. Ich erinnere mich an die tiefen Schatten unter seinen Augen, die aussahen, als hätte er Mühe, sie offen zu halten. Ich ging hinter ihm vorbei, grußlos, natürlich, und machte mich an meinem Brieffach zu schaffen, dabei hatte ich es am Morgen bereits geleert. Mein Fach war ganz unten, ich musste also neben ihm in die Hocke gehen. Er trug Turnschuhe, die einmal weiß gewesen sein mussten. Seine Jeans war hinten heruntergetreten und vom Schneematsch nass, einzelne Fäden hatten sich aus dem Saum gelöst. Während ich noch hockte, das Ganze spielte sich in wenigen Sekunden ab, wandte er sich zum Gehen. Dass ich den Atem angehalten hatte, fiel mir erst auf, als mit einem lauten Krachen die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel.
    Irgendwann dann lernte ich Leo kennen und vergaß die Geschichte nun wirklich. Er sah aus wie mein Vater als junger Mann, die gleiche Brille, die gleichen Locken, ein Israeli, der einen der Pastramiläden im Scheunenviertel betrieb. Ich ließ jeglichen beruflichen Ehrgeiz fallen, und irgendwann machte mir meine Arbeit wieder Spaß. Es wurde Frühling, und an der Kastanie im Hof zeigten sich Blätter. Auf der Straße roch es wieder nach Zwiebeln, die jemand bei offenem Fenster briet. Morgens wurde ich von der Sonne geweckt, die links und rechts von meinen Jalousien durch die Ritzen schien, und immer öfter lag Leo neben mir, drehte sich noch einmal um, nachdem ich aufgestanden war und schlief weiter. Irgendwann begannen wir, gemeinsam die Wohnungsanzeigen zu studieren. Ich rief die Hausverwaltung an, um meine Kündigung bekannt zu geben, und vereinbarte zur Wohnungsabnahme mit dem Hausmeister einen Termin. Als er kam, wirkte er anders als sonst, weniger herablassend, freundlich beinahe. Er ließ sich sogar überreden, die schadhaften Stellen im Laminatboden als Wasserschaden zu akzeptieren, den es tatsächlich einmal gegeben hatte, der aber für die Kratzer nicht verantwortlich war.
    Nachdem wir einmal durch die ganze Wohnung gegangen waren und alles besprochen war, blieb er ei [, b"junen Moment zu lang im Türrahmen stehen. Er sah aus, als bedrückte ihn etwas. Ob ich von den Problemen im Hinterhaus gehört hätte, fragte er, zögernd. Wahrscheinlich habe ich überrascht ausgesehen. Da habe doch einmal so ein Regisseur gewohnt, sagte er, Ebbinghaus, Thomas Ebbinghaus … Ich nickte. Na, der sei irgendwann einfach weg, angeblich Südamerika, Genaues wisse man nicht. Ich schwieg, ließ ihn reden. Monatelang habe er keine Miete gezahlt. Gut, so etwas komme vor und leider öfter, als man denken sollte. Das sei zwar nicht schön, aber … Er zuckte die Achseln. Doch als sie irgendwann die Wohnung geöffnet hätten … Er schüttelte den Kopf. So etwas habe er wirklich in all den Jahren nicht gesehen. Unvorstellbar sei das gewesen, wirklich, das male man sich gar nicht aus. Die totale Verwüstung, Berge von Müll, Pizzakartons, Kleider, Zigarettenstummel. Mit gesenkter Stimme fuhr er fort. Überall verstreut habe Sexspielzeug gelegen, und … Exkremente. Fein säuberlich, auf jedem Kleiderhaufen. Und die Toilette habe ausgesehen … Er brach ab. Auf einmal schien er es eilig zu haben. Schlaff drückte er mir die Hand. Das Schlimme sei, dass sie die Wohnung seither nicht mehr vermieten könnten, da hinge so ein Gestank drin, der gehe überhaupt nicht mehr raus. Er sah mich an, als suche er Trost. Dann wandte er sich um und verschwand im Treppenhaus.
    Drei Jahre später sah ich Ebbinghaus auf der Straße. Ich war gerade mit Ferdinand auf dem Weg zum Kindergarten, die Arbeit als Journalistin hatte ich gegen eine Halbtagsstelle in einer PR-Agentur eingetauscht. Eine befahrene Kreuzung, ich stand mit unserem Wagen ganz vorne an der roten Ampel. Ich erkannte ihn sofort. Den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, lief er mit raschen Schritten direkt vor meinem Wagen vorbei.
    Und plötzlich war alles wieder da.
    Mein altes Leben, die Wohnung, der einsame Kastanienbaum im Hof. Die stillen Nächte, die Ohnmachten, die bleierne Müdigkeit. Ich dachte daran, zu hupen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher