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Meine 500 besten Freunde

Meine 500 besten Freunde

Titel: Meine 500 besten Freunde
Autoren: Johanna Adorján
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Theaters erlebt. Sie war mit ihrem Hund an der Leine in das Unterwäschegeschäft gekommen, in dem Friederike sich gerade befand. Obwohl es ein grauer Tag gewesen war, hatte von Stettin eine Sonnenbrille getragen. Sie hatte sich lange im Laden aufgehalten, mal dieses, mal jenes Wäschestück aus den Regalen genommen und so getan, als bemerke sie die Blicke der anderen Frauen nicht, die sie von allen Seiten musterten und ihrerseits so taten, als seien sie in die ausliegende Ware vertieft. Schließlich hatte sie die Verkäuferin mit ihrer berühmten, an diesem Tag glockenhellen Stimme gefragt, ob es ein bestimmtes Höschen auch in einer kleineren Größe gäbe. Nachdem sie gegangen war, hatte Friederike sich dasselbe Modell gekauft. Es entsprach zwar eigentlich nicht ihrem eigenen Unterwäsche-Geschmack, der für verspielte Details wie seitlich zu bindende Schleifen keinen Sinn hatte (da diese unter Stoff doch nur auftrugen), doch sie fühlte sich nun jedes Mal, wenn sie diese Unterhose trug, als würde die Wahl der Schauspielerin auf ihren eigenen Charakter abfärben. Irgendwie wagemutiger als sonst, und sie dachte auch öfter an Sex.
    An diesem Abend trug Friederike allerdings ein anderes, gröberes Modell. Sie war mit Klaus im Theater gewesen. Auf dem Spielplan hatte »Geröll und Widerstand« gestanden, eine Bühnenadaption des wohl bekanntesten Romans eines zeitgenössischen litauischen Schriftstellers, von dem Friederike nie zuvor gehört hatte. Es war viel von Flucht und Krieg die Rede gewesen, aber das Ensemble war trotzdem in glitzernder Abendgarderobe aufgetreten und das Bühnenbild hatte nach Jahrmarkt ausgesehen. Ein glatzköpfiger Mann in Lederjacke, von dem Friederike annahm, es könnte der Autor selbst gewesen sein, hatte mitten im Stück relativ unvermittelt einen langen Monolog in einer fremden Sprache (vermutlich litauisch) gehalten, anschließend war minutenlang sehr laut Rockmusik eingespielt worden, während zwei der männlichen Darsteller die Frau vergewaltigten, die von Nadja von Stettin gespielt wurde. Unter Umständen hatte es sich dabei um eine Liebesszene gehandelt, das hatte sich Friederike nicht vollständig erschlossen, da sich diese Szene hinter der Bühne abgespielt hatte und in verwackelten Live-Videobildern auf eine Leinwand übertragen worden war. Die Musik jedenfalls hatte einen Gewaltakt nahegelegt. Leider hatte es keine Pause gegeben, und da ihre Plätze sich in der fünften Reihe Mitte befunden hatten, mussten sie, um nicht unnötig für Unruhe zu sorgen, die vollen drei Stunden im Saal ausharren, bis der höfliche Applaus verebbt und der dritte und letzte Vorhang gefallen war.
    Klaus hatte die Inszenierung anschließend »schwierig« aber »mal was anderes« genannt und Friederike, während sie an der Garderobe anstanden, von einer Reise nach Polen erzählt, die er vor Jahren unternommen hatte und die ihm vermutlich wegen der geographischen Nähe zu Litauen wieder eingefallen war. Nachdem er ihr vom Warschauer Nachtleben in den mittleren neunziger Jahren vorgeschwärmt hatte und von dort auf Breslau (heute Wroclaw) zu sprechen gekommen war, wo er, was er bedauerte, noch nie gewesen war, hatte er – inzwischen hatten sie das Theater verlassen und liefen in Richtung eines nahe gelegenen italienischen Restaurants – gedanklich die Grenze zu Deutschland und zur Gegenwart überquert und war, als sie besagtes Restaurant betraten, eben dabei, Friederike von seinem neuesten Projekt zu erzählen, einer Reality Show, in der heute erwachsene Opfer von Kindesmissbrauch auf die Täter von damals treffen würden, unter Aufsicht von Psychologen natürlich, und das Ganze auch nicht live, sondern vorab aufgezeichnet und von einer Frau moderiert, die Friederike bislang ausschließlich als Wetterexpertin bekannt war. »Keine leichte Kost«, sagte er zweimal und schüttelte den Kopf.
    Obwohl es ein Freitagabend war und das Restaurant dementsprechend gut besucht, war einer der langen Holztische im Hauptraum frei, und nachdem die Kellnerin sie gemustert und offenbar für ambientetauglich befunden hatte, nahm sie das Reserviert-Schild herunter und wies ihnen zwei Plätze zu. Friederike vertiefte sich sogleich in die Speisekarte. Ihr hatte die Inszenierung überhaupt nicht gefallen, woran selbst der Auftritt von Nadja von Stettin nichts hatte ändern können, die nach der Vergewaltigungsszene erst wieder zum Applaus auf der Bühne erschienen war. Das wollte sie Klaus gegenüber aber auf keinen Fall
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