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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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Pappkartons aus den glitzernden Glaspalästen getragen.

|35| Die letzte Zigarette – für heute
    »Ich bin überzeugt, dass die Zigarette anders und besser schmeckt, wenn sie die letzte sein soll.«
    Zeno Cosini
    Vielleicht ist es das leise Knistern, das das Herunterbrennen des Papiers verursacht, noch ehe der Rauch vollständig in die Mundhöhle aufgenommen ist. Der Moment, in dem man eine Zigarette wie ein zu Beobachtungszwecken entzündetes Objekt betrachtet, entfaltet sich für den Raucher zum triumphalen Augenblick. Der weiche Tabakstift liegt leicht zwischen den Fingern, beinahe schwerelos signalisiert er langsam vergehende Zeit, die für den Moment still zu stehen scheint. Die Würde des Rauchens erwächst aus dieser kurzen Erhebung über die Zeit. Bald darauf löst der beißende Druck des Rauchs auf der Lunge einen schrillen Alarm im Gehirn aus, der einen Sekundenbruchteil später bereits widerrufen wird, wenn sich das beklemmende Empfinden in wohlige Beruhigung verwandelt. Nichts, so scheint es, vermag dieses Erlebnis zu stören.
    Die Frage nach Genuss ist für einen Raucher zunächst von untergeordneter Bedeutung. Es ist unwahrscheinlich, dass sich jemand an die geschmacklichen Freuden seiner ersten Zigarette erinnert. Fast immer ist das Gegenteil der Fall. Sehr viel naheliegender ist es jedoch, dass man sich an die äußeren Umstände erinnert. Es gehört nicht viel dazu, sich zum Sinnesschock zu bekennen, den das erste Mal ausgelöst hat. Erst später, wenn der Raucher sein Tun in ein Gefüge von Handlungen, Wahrnehmungen und Empfindungen integriert hat, bekommen Geschmacksfragen ihren Platz in einem System von Distinktionen. Nun lässt sich gut begründen, warum und wie oft man es tut, in welchen |36| Ritualen man sich eingerichtet hat und warum man weiterhin nicht davon lassen kann oder möchte. Auf dem Rauchen lastet ein gesellschaftlicher Legitimationsdruck, mit dem die Raucher umzugehen gelernt haben. Ablenkung, Pausen füllen, die Antwort auf die Frage: Wohin mit den Händen? Andere gängige Erklärungen mehr. Dabei geht es nicht um irgendeinen Tick im weiten Feld individueller Marotten. Mehr als andere Ausdrucksformen gehört Rauchen zur sozialen Praxis, und der Umgang damit erzählt Geschichten vom gesellschaftlichen Tun und Lassen. Rauchend wie nichtrauchend verhält man sich zu seiner Umwelt und gestaltet das eigene Ich. Wie immer man es damit auch halten mag: Rauchen ist bedeutsam, ein zentraler Bestandteil unserer kulturellen Prägung. Zwar gelten Raucher als personifizierter Ausdruck schlechter Gewohnheiten, und es gibt kaum einen, der dies nicht ohne Umschweife einräumen würde. Das schlechte Gewissen raucht mit. Nicht selten sieht man sie als schwache Menschen, die, wie erfolgreich sie auch im gesellschaftlichen Leben sein mögen, sich diesem Bedürfnis hingeben müssen. Rauchen stellt einen permanent misslingenden Triebaufschub dar. Zugleich erstattet aber gerade die stigmatisierte Gruppe der Raucher der demeritorischen Handlung, dem wenig verdienstvollen Tun, ihre Normalität. Rauchen trägt zum gesellschaftlichen Gelingen nichts bei, aber man hat sich daran gewöhnt, dass es vorkommt. Mehr noch: Weil es als schlechte Gewohnheit grassiert, bekräftigt es die Existenz und die Notwendigkeit der guten. Das schlechte Beispiel, mit dem andere vorangehen, stabilisiert den Kanon der Tugenden. Im Raucher manifestiert sich der alltägliche Kampf des Einzelnen, ein besserer Mensch zu werden. Die Gesellschaft der Nichtraucher hat lange Zeit recht milde auf ihn geblickt, weil sie ihre verborgenen Kämpfe in seinem gut aufgehoben wusste. Das gesellschaftlich anerkannte Laster hat nicht zuletzt auch eine Stellvertreterfunktion. Es schützt vor schlimmeren heimlichen Unsitten.
    |37| Es gibt kein unschuldiges erstes Mal. Zug um Zug, das weiß der Rauchende von Anfang an, übertritt er ein Verbot. Das erste Mal erfolgt als negative Initiation. Man wird in die Gesellschaft der Raucher nicht feierlich aufgenommen, sondern verschafft sich unerlaubten Zutritt. In der kindlichen Entwicklung ist es bis heute der bedeutendste Regelverstoß, den begangen zu haben eine ausgesprochene innere Verpflichtung darstellt. Die erste unerlaubte Zigarette ist wohl noch immer die erste jugendliche Mutprobe. Sie führt ein in die Kunst der Lüge, und mit etwas Glück und Geschick macht man die Erfahrung, dass die Strafe nicht notwendig auf das Vergehen folgt. Die erste Zigarette erschließt so gesehen ein neues Verhältnis
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