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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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zeigen.
    An der Einsicht in die Notwendigkeit und Praxis der privaten Buchführung mangelt es nicht. Dabei leuchten derlei Verhaltensweisen keineswegs sofort ein. Die Steuererklärung ist ein aus der Zivilisationsgeschichte erst sehr spät hervorgegangenes Verfahren, das sich inzwischen regelmäßig und unerbittlich wiederholt. Wie Weihnachten und Ostern kehrt der Zeitpunkt der Steuererklärungspflicht wieder, auch wenn er nicht von vornherein rot in jedem Kalender eingetragen ist. Das Amt zeigt sich in seinen zeitlichen Vorgaben sogar recht flexibel, doch die terminliche Unbestimmtheit steigert das Unbehagen nur noch und ruft mitunter unbekannte Neigungen zu Starrsinn wach. Mit den Pflichten wächst das Beharrungsvermögen, und man beginnt, dumme Fragen zu stellen. Warum hat überhaupt der Staat das Recht, Einblicke in die Einkommensverhältnisse seiner Bürger zu verlangen? Beim Ausfüllen der Bögen wird der Steuerbürger gern grundsätzlich und denkt über anthropologische Fragen oder gar den Prozess der Zivilisation nach. Was trägt die Steuererklärung zur Arterhaltung bei? Und dient sie der Nahrungsaufnahme oder ist sie auf andere Weise existenzsichernd?
    Das Gegenteil ist der Fall, ihr Ergebnis vermag Existenzen nachhaltig zu beeinträchtigen. So bürokratisch korrekt eine Steuererklärung auch daherkommen mag, rührt sie doch ans Innerste der |31| gewählten Lebensform. Sie findet einen überall, auch auf dem Waldbauernhof am Rande der Zivilisation, wo Möhren gezogen werden für den Eigenbedarf und den Verkauf auf dem Wochenmarkt in der Stadt. Jenseits der in Anspruch genommenen professionellen Hilfsangebote reagiert das Subjekt meist mit deutlicher Abwehr. Es scheint etwas im modernen Wirtschaftsbürger zu schlummern, das sich gegen den Übermut der Ämter sträubt. Wie kann es sein, dass die soviel dürfen?
    Wer Freude und Genugtuung an Vorgängen des Sortierens und Abheftens empfindet, dem ist es indes völlig fremd, dass das Hin- und Herbewegen von ein paar Zettelhügeln, Zahlenkolonnen und Kontoauszügen die Seele beschwert. Tatsächlich aber kommt die Qual mit der Steuererklärung einer sich verbreitenden Zivilisationskrankheit gleich. Nirgends jedenfalls äußern sich die Symptome eines Aufschiebeimpulses derart stark. Man kennt derlei Regungen vielleicht vorm Besuch des Zahnarztes. Der Schritt vor die Tür ist nicht länger hinauszuzögern. Das Pulsieren des Zahnfleischs hat den Mund zu einer gefühlten Größe eines Ochsenmauls anschwellen lassen. Heute noch einmal abwarten? Vorm Zahnarzt lässt sich mehr oder weniger begründet Angst haben. Aber was macht einen Finanzbeamten zur Schreckensperson, dessen Namen man in der Regel nicht kennt und dessen tonlose Aufforderung keine unmittelbaren Schmerzen verursacht? Selbst bei Menschen, die äußerlich jederzeit den Eindruck erwecken, ihr Leben im Griff zu haben, treten Blockaden wie diese auf. Eine der eher quälenden Erfahrungen beim Erstellen der Steuererklärung ist die Wiederkehr der bereits abgelaufenen Zeit. Ist das nicht das eigene Leben, was da auf dem Papier zu bloßen Zahlen gerinnt und nicht selten von der fremden Instanz nachteilig bewertet wird? Der distanzierte Kontakt mit dem Finanzamt konfrontiert unweigerlich mit der plötzlichen Einsicht: »Das bin ja ich.« Gasthof »Zur Krone«, irgendwo im Rheingau, ach, das hatte ich ganz vergessen. Und wie teuer das damals war. Und |32| stundenlang auf das Taxi gewartet. Warum finde ich die dazugehörige Taxi-Rechnung eigentlich nicht?
    Das Unbehagen an der Überführung der eigenen Existenz in haushalterische Parameter rührt her aus der abrupten Stillstellung des Datenflusses. Dass aus der vergehenden Zeit Zählbares gezogen werden soll, begreift das sensible Steuersubjekt intuitiv als Kränkung. Es ist nicht hinnehmbar, dass so etwas Grandioses wie das Hinübergleiten von einem Tag in den anderen plötzlich mit Kassenzetteln belegt werden soll. Das Bleibende hatte man sich irgendwie anders vorgestellt als schon nach kurzer Zeit verblassende Quittungen. (Während das verblassende Leben eine Metapher ist, tun es die Quittungen übrigens tatsächlich.) Dabei geht es vermutlich gar nicht um die Angst vor Offenlegung, Rückforderung oder Nachzahlung. Es geht vermutlich nicht einmal um Geld. Den Aufschub leisten sich nicht selten auch jene, die sogar eine Erstattung von der Finanzbehörde zu erwarten haben. Das Geld, das man vom Finanzamt bekommt, wähnt man dort selbst in Zeiten der Finanzkrise gut
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