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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas
Autoren: C. K. Stead
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schluchzend in die Arme.
    Maria Magdalena kam auf mich zu und sprach mit mir, als sei ich ein einfaches Mitglied der Trauergemeinde und sie die Hauptleidtragende, eine Repräsentantin der Familie oder gar Jesu selbst. Ich dachte schon, sie würde so etwas sagen wie: »Danke, dass du gekommen bist.« Ihr Gesicht hatte denselben Ausdruck, den ich zuvor aus der Ferne nicht hatte deuten können. Ihre Augen strahlten. Sie war nicht unglücklich, sie war völlig exaltiert.
    Meine Wut kochte wieder hoch. Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit ihr, bei dem ich sie um Unterstützung dafür bat, Jesus die Rückkehr nach Galiläa nahezulegen. Sie hatte es abgelehnt und gesagt, vielleicht sei es seine Bestimmung, zu sterben. »Bist du jetzt zufrieden?«, fragte ich sie und zeigte auf den geschundenen, nackten, blutenden, bleichen Leichnam, den ein schwitzender Soldat gerade vom Kreuz abnahm. »Er ist tot. Ist es das, was ihr wolltet?«
    Sie war merkwürdig ruhig und sagte: »Ja, er ist tot. Aber er wird leben.«
    Das besänftigte mich nicht im Geringsten, und dass sie mit mir sprach wie mit einem Kind, machte es nicht besser. Sie sagte: »Jesus wird wieder auf der Erde wandeln. Du wirst es mit eigenen Augen sehen, Judas.«
    Was hätte ich darauf erwidern sollen? Ich drehte mich um und ging. Als ich mich etwas beruhigt hatte und zurückkehrte, erklärte ein Mann den drei Frauen und Petrus, er habe von den Römern die Erlaubnis erhalten, Jesu Leichnam zu bestatten. Es war ein wohlhabender Kaufmann, der Jesus predigen gehört hatte und von seiner göttlichen Mission überzeugt war. Ursprünglich stammte er aus Arimathäa, wohnte aber schon länger in Jerusalem und hatte sich im Garten seines Hauses eine Grabstelle zugelegt, eine in den Fels gehauene Gruft. Das sei ein angemessener Ruheort für den Leichnam eines Propheten, sagte er. Für sich selbst werde er eine zweite Gruft anlegen lassen, sodass er dereinst neben dem großen Jesus von Nazareth die ewige Ruhe fände.
    Genau wie Maria Magdalena umgab ihn eine Aura des Entrücktseins. Seine Diener hatten Leinentücher, Gewürzkräuter und eine Trage besorgt und warteten bereits darauf, den Leichnam zum Grab zu bringen, wo sie ihn salben und in das Leinen hüllen würden. Die Frauen, Maria, Martha und Maria Magdalena, wollten sie begleiten.
    Ich sah zu, wie sie ihn forttrugen. »Jesus ist tot«, murmelte ich immer wieder fassungslos vor mich hin. Außer zweien waren alle seine Jünger verschwunden. Das gesamte Unterfangen war beendet. Was immer wir uns dabei gedacht hatten, was immer Jesus sich dabei gedacht hatte – es hatte zu nichts als Schmerz, Tränen und einer ebenso unnötigen wie brutalen Hinrichtung geführt. Ich musste daran denken, wie er immer zu uns gesagt hatte, wir sollten »den Staub von unseren Füßen abschütteln« und weiterziehen, wenn wir an einen Ort kamen, wo wir nicht willkommen waren. Genau das musste ich jetzt tun. Ich musste ein neues Leben beginnen. Doch zuerst musste ich Geld auftreiben, um die Stadt verlassen und die Heimreise antreten zu können, denn ich konnte ja nicht mehr damit rechnen, von einer jesusbegeisterten Bevölkerung aufgenommen und verköstigt zu werden.
    Wie aber sollte ich das anstellen? Ich würde wohl meinen Stolz hintanstellen und meinen Onkel um Hilfe bitten müssen. Das erwies sich jedoch als unnötig. Als ich durch das Damaskustor in die Stadt zurückkehrte, nahmen mich plötzlich zwei Männer in ihre Mitte. Da es Tempelwächter waren, bekam ich schreckliche Angst. War nun auch ich festgenommen?
    Sie verneinten, und einer sagte: »Dein Onkel verlangt nach dir.«
    »Wir bringen dich zu ihm«, sagte der andere.
    Ich widersetzte mich nicht. Schließlich blieb ich einige Tage bei meinem Onkel. Er war noch genauso eingebildet und selbstgerecht, wie ich ihn als Kind erlebt hatte, besaß aber Humor und war meinem Vater so ähnlich, dass ich ihm respektvoll gegenübertrat. Mich behandelte er mit Nachsicht, wie einen Sohn aus gutem Hause, der vorübergehend einen falschen Weg eingeschlagen hatte – aus verständlichen Gründen, wie er mir versicherte. Dass ich Jesus gefolgt war, hielt er für ein Zeichen tiefer Religiosität. Er könne gut verstehen, sagte er, dass ein junger Mensch nach spiritueller Erfüllung und Wahrheit suche und von der etablierten Priesterschaft enttäuscht sei. Da liege es nahe, falschen Propheten nachzulaufen, die einem den Himmel auf Erden und nach dem Tode versprächen, ohne auch nur eines von beidem
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