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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas
Autoren: C. K. Stead
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du auf alles eine Antwort, selbst wenn du nichts wusstest.«
    »Du fühlst dich hintergangen? Tut mir leid, Bartolomäus. Ich dachte, ich hätte dir einen Gefallen getan.«
    Mit bemühter Höflichkeit sagte er: »Morgen bist du mich los. Vielen Dank für die Gastfreundschaft.«
    Er war so blass vor Wut, dass ich lachen musste. »Sollte ich nicht derjenige sein, der sich hintergangen fühlt? Immerhin diffamierst du mich in aller Welt als den Verräter Jesu.«
    Er drohte mir mit dem Finger. »Schluss jetzt, Judas! Du hast mich getäuscht.«
    »Indem ich lebe? Wäre dir mit meinem Tod mehr gedient? Würde das deine Jesusgeschichte weniger unwahr machen?«
    Seine Miene verdüsterte sich noch mehr, doch dann schien er eine Eingebung zu haben. »Ich kenne dich«, sagte er. Er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. »Obwohl du die ganze Zeit bei uns warst, wussten wir nicht, wer du warst. Doch er wusste es. Er muss es gewusst haben. Das gab ihm Macht über dich. Jetzt habe ich diese Macht über dich. Ich fürchte dich nicht, Judas, denn ich kenne die Wahrheit.«
    Er umklammerte das Kreuz an seiner Kette, richtete es auf mich und schrie: » Du bist der Teufel .«
    Ich muss zugeben, dass ich wieder lachte. Wahrscheinlich hat ihn das in seiner Überzeugung nur noch bestärkt. Heißt es nicht immer, dass der Teufel viel zu lachen hat? »Wenn Jesus der Sohn Gottes ist«, sagte ich, »warum sollte ich dann nicht der Teufel sein? Er und ich hatten denselben Lehrer. Denk mal darüber nach …«
    Zitternd stand er an der Tür und versuchte, die Ungeheuerlichkeit seiner neuesten »Erkenntnis« zu fassen. Kein Jota würde er davon abweichen. Ich sah, wie es in seinem Kopf arbeitete: Wenn ich, Judas, der Teufel war, müsste es mir ein Leichtes sein, zum Schein zu »sterben«, durch »Selbstmord«, um dann in neuer Gestalt wieder zu erscheinen und die Anhänger Jesu in Versuchung zu führen. Eigentlich ein hübscher Gedanke. Immerhin hätte ich nach dieser Lesart einen gewissen Status – weit unter Jesus natürlich, aber ich wäre eine ernstzunehmende Figur in einem metaphysischen Drama. Auf gewisse Weise fühlte ich mich geehrt.
    All das hätte ich ihm gern gesagt. In jüngeren Jahren, als mein Kampfgeist noch größer war, hätte ich es vermutlich getan. Doch im Alter lernt man, zur rechten Zeit zu schweigen und die besten Scherze für sich zu behalten. Außerdem bedauerte ich, so missgestimmt von ihm Abschied zu nehmen. Musste das wirklich sein?
    »Bartolomäus, alter Freund«, sagte ich und ging auf ihn zu. Doch seine Miene entspannte sich nicht, und er streckte die Hand mit dem Kreuz noch weiter nach mir aus, als könne es mich davon abhalten, ihm zu nahe zu kommen.
    »Jesus beschütze mich!«, betete er und verdrehte wieder die Augen gen Himmel.
    Für ihn durfte ich kein Mensch sein – weder ein Besserwisser noch ein Skeptiker und schon gar kein Freund. Nein, ich war der Teufel, und er fürchtete sich vor mir.
    Dann fiel mir etwas ein, das ich von einer jüdischen Familie gehört hatte, Flüchtlingen aus Betfage, die kurz nach den Kameltreibern nach Sidon gekommen waren. Man hatte sie gebeten, allen Jesusanhängern, denen sie unterwegs begegneten, eine Nachricht zu überbringen. Ich hatte diese Nachricht schon gehört, sie an Ptolemäus aber noch nicht weitergegeben, weil ich wusste, dass sie ihn noch mehr beunruhigen würde als mich.
    »Eins noch, Bartolomäus«, sagte ich in einem Befehlston, der mir seine Aufmerksamkeit sicherte. »Ich habe etwas aus Jerusalem erfahren, das für deine Ohren und die deiner Freunde bestimmt ist. Ich konnte es dir noch nicht sagen, aber jetzt ist die rechte Zeit dafür. Es geht um die Söhne des Zebedäus.«
    »Jakobus und Johannes«, sagte er und ging einen halben Schritt auf mich zu. Erst hielt er mir das Kreuz noch entgegen, aber dann ließ er die Hand langsam sinken. »Du willst doch nicht etwa sagen …« Er sprach nicht weiter.
    »Doch«, sagte ich. »Sie sind tot. Es tut mir sehr leid.«
    Er nickte. »Ich verstehe. Wenn sie zu dem Zeitpunkt in der Stadt waren … Natürlich haben sie sich dem Kampf gestellt.« Er kam weiter auf mich zu.
    »Jakobus ist tatsächlich im Kampf gestorben«, bestätigte ich.
    »Und Johannes?«
    Ich wusste nicht, wie ich es ihm schonend beibringen sollte. »Er wurde gekreuzigt.«
    Er zuckte zusammen und brach in Tränen aus. Dann ließ er sich vom Teufel umarmen.
    Eine ganze Weile standen wir so da. Theseus entfernte sich diskret und
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