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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas
Autoren: C. K. Stead
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beschaffen sein?«
    Waren Sonne und Mond wirklich Kugeln? Vermutlich hatte er recht, aber fremd war mir dieser Gedanke doch. Dabei war ich mir nicht einmal sicher, wie ich früher über diese Dinge gedacht hatte – falls ich darüber überhaupt nachgedacht hatte. Die Vorstellung von der Sonne als einer riesigen glühenden, flachen Scheibe, die abends im Westen in einer Meeresspalte versank, schien der Wirklichkeit zu entsprechen, aber wenn ich jetzt darüber nachdachte, merkte ich, wie unwahrscheinlich das war.
    Andererseits war alles unwahrscheinlich und unvorstellbar – die Sonne, die Sterne, ja selbst die Erde.
    Vor langer Zeit schon hatten Theseus und ich beschlossen, dass wir bei der Betrachtung der Welt nur Vorstellungen gelten lassen wollten, die dem gesunden Menschenverstand und genauer Beobachtung standhielten. Wir würden genau hinsehen und nichts unbeachtet lassen – Pflanzen, Tiere, die Jahreszeiten, das Wetter und vor allem das Verhalten unserer menschlichen Brüder und Schwestern. Aus der Summe unserer Beobachtungen würden wir unsere »Philosophie« entwickeln. Und genau das tat Theseus bei Betrachtung der Horizontkrümmung. Seine Schlussfolgerung, die Erde sei eine Kugel, war von seinem gelehrten Freund, dem Astronomen, bestätigt worden, und er hatte ihm gezeigt, wie der Beweis geführt werden konnte. Ich vermochte ihm nicht gänzlich zu folgen und war nicht vollends überzeugt, musste aber zugestehen, dass vermutlich ich irrte und es meinem Intellekt an Wendigkeit mangelte.
    Doch richtig oder falsch war nicht die Frage. Es ging nur darum, unser Versprechen zu halten und nur das als »wahr« gelten zu lassen, was unsere Sinne und unser Verstand erfassen konnten. Dabei negierten wir nichts Mystisches, Mysteriöses oder gar Magisches, aber wir deklarierten die Dinge nicht vorschnell so, nur weil andere es taten. Vielleicht gab es den einen Gott, der unsere Gebete erhörte und unsere Opfer akzeptierte, wie man es mich als Kind gelehrt hatte. Vielleicht gab es aber auch viele Götter, wie Theseus es gelernt hatte. Vielleicht waren wir von Engeln umgeben, vielleicht stiegen die Toten nachts aus ihren Gräbern. Aber vielleicht auch nicht. Was jene überirdischen Wesen betraf, würden wir erst an sie glauben, wenn wir ihre Anwesenheit und ihre Kraft spürten. Über die Jahrzehnte, die unsere Freundschaft nun schon andauerte, hatten wir festgestellt: Je weniger wir an diese Wesen glaubten, an die »andere Welt« und ihre Kreaturen, desto weniger Anlass gaben sie uns, ihre Existenz für wahrscheinlich zu halten. Nach und nach schwanden diese Licht- oder Schattenwesen aus unserem Leben, aus unserem Denken, aus der Luft, die wir atmeten, aus dem Himmel, dem Meer, den Felsen und dem Wüstensand – aus allem.
    Es war, als lichtete sich ein Nebel, als würde ein Schleier gelüftet. Fremdartige Geräusche in der Nacht waren fremdartige Geräusche in der Nacht, für sie gab es Ursachen, die man entdecken konnte. Der Zorn Gottes, der nach dem Volksglauben als feuriger Wagen am Himmel erschien, konnte, wenn man ihn mit anderen Augen betrachtete, auch etwas weniger Ominöses sein – die Luftspiegelung eines Kamels, eines weißen Rosses oder nur das Zusammenspiel von Wolken und Sonne. Wenn mein Maultier tot umfiel, war es seiner Altersschwäche erlegen, nicht einem Fluch. Ein Komet am Himmel, eine Sternschnuppe? Nichts weiter als ein Komet und eine Sternschnuppe. Warum musste alles eine »tiefere Bedeutung« haben? Eine Opferkuh gebärt in dem Moment ein Kalb, als ihr die Kehle aufgeschlitzt wird? Ein solcher Vorgang hatte kürzlich in der näheren Umgebung Furcht und Panik ausgelöst. Es war eben Zeit zum Kalben gewesen, und man hätte die Kuh nicht als Opfertier auswählen dürfen. Die Scheune eines Nachbarn brennt nieder mit all seinen Kornvorräten? Nein, anders als er befürchtet, wehklagend und sich selbst kasteiend, ist es keine Strafe Gottes, weil er gesündigt und seine Gebete vernachlässigt hat. Viel wahrscheinlicher, das haben wir ihm aber nicht gesagt, steckte die Trunksucht und Unachtsamkeit seines Sohnes dahinter.
    Wir hatten aufgehört, diese »Zeichen« deuten zu wollen, und misstrauten denen, die vorgaben, es zu können. Es waren ganz gewöhnliche Vorkommnisse, die mitnichten dazu dienten, uns irgendwelche »Botschaften« zu schicken.
    Selbst der Blitz, der vor vielen Jahren meinen Ochsenkarren traf und alles vernichtete, als ich mit meinem spärlichen Besitz aus Tyros auszog, war für mich
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