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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas
Autoren: C. K. Stead
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Woche in seinem Haus auf, zusammen mit einem anderen Jungen, Thaddäus, dessen Eltern es sich ebenfalls leisten konnten, ihrem Sohn eine gute Bildung angedeihen zu lassen, sowie Jesus, dessen Eltern es sich keineswegs leisten konnten. Andreas hatte Jesus zufällig kennengelernt und angeboten, ihn unentgeltlich zu unterrichten, weil er eine ungewöhnlich schnelle Auffassungsgabe habe und hochintelligent sei – ein Ilui , wie Andreas sagte, ein kindliches Genie. Zudem war Jesus ein hübscher Junge mit angenehmen Umgangsformen. Manchmal dachte ich – ohne seine Intelligenz anzuzweifeln, die er täglich unter Beweis stellte –, dass er nicht nur wegen seiner Gelehrsamkeit einen Platz in unserer Mitte bekommen hatte, sondern auch wegen seines Charmes und seines guten Aussehens. Ich dagegen war ein ganz gewöhnlicher Junge, aufgeschlossen und geradeheraus, aber nicht von besonderer Anmut.
    Wenn ich heute an unsere Schulzeit zurückdenke, sehe ich Andreas vor mir, wie er, den Arm lässig um Jesu Schultern gelegt, mit seiner hohen, aufgeregten Stimme dozierte, als wolle er seinen Lieblingsschüler nicht nur unterrichten, sondern auch beschützen. Wenn er sich darüber freute, dass wir etwas Schwieriges begriffen hatten, küsste er uns manchmal auf die Wange. Jesus küsste er öfter als Thaddäus und mich. Da er besser und schneller lernte als wir, waren diese Küsse durchaus verdient. Trotzdem spürten wir, dass Andreas ihn nicht nur deswegen mehr liebte als uns.
    Zuerst lernten wir, unsere Muttersprache zu lesen und zu schreiben, später dann auch Hebräisch, damit wir die Heiligen Schriften und die Geschichte unseres Volkes studieren konnten. Wir verbrachten viel Zeit damit, lange Passagen aus diesen Texten abzuschreiben und auswendig zu lernen. Andreas war Syrer, seine Muttersprache Griechisch, aber er war ein großer Gelehrter und ein ausgezeichneter Linguist. Sein Aramäisch betrachtete er als dem unseren überlegen, weil er es in Jerusalem gelernt hatte. Unser galiläischer Akzent war in seinen Ohren »provinziell«, und er tadelte unsere »bäuerlichen Konsonanten«. Wenn wir laut vorlasen, mussten wir unsere Aussprache immer wieder korrigieren.
    Auch hierbei gab es für Jesus immer wieder Küsse. Schon als Kind hatte er eine angenehme Stimme, und binnen kürzester Zeit konnte er die schwierigsten Texte von den Schriftrollen ablesen, mit erstaunlichem Verständnis und nahezu fehlerfrei. Er konnte auch sehr schön singen, aber das traf auf uns alle zu, oft sangen wir mit unserem Lehrer vierstimmige Volkslieder.
    Auch ein wenig Griechisch brachte Andreas uns bei, und manchmal erzählte er von Lebensgewohnheiten und Traditionen der Griechen. Vieles, was ich damals lernte, ist längst vergessen. Aber ich erinnere mich an eine Stunde über die Philosophie des Diogenes, deren Vertreter als Kyniker bezeichnet wurden, die »Hunde-Philosophen«. Eigentum und weltlichen Besitz lehnten sie ab, stattdessen huldigten sie der Armut, gingen in Lumpen. Wie Hunde ernährten sie sich von dem, was sie finden konnten, und ebenfalls wie Hunde wohnten sie nicht in Häusern, sondern im Freien. Andreas erzählte, einmal sei Diogenes vor den Toren Korinths barfuß auf einer staubigen Straße gegangen, einen Stock mit dem Bündel seiner wenigen Habseligkeiten über der Schulter, als er Alexander dem Großen begegnete. Dieser schickte sich an, die Welt zu beherrschen, was der Philosoph als »unnötig« bezeichnet haben soll, da er seine Welt, also sich selbst , bereits beherrsche. Brustschild und Helm des großen Königs glänzten, die Soldaten in seinem Gefolge trugen Speere und rot-schwarze Banner vor sich her. Alexander blickte von seinem prachtvollen Ross auf den Philosophen hinab, der in Lumpen vor ihm stand, und war von dessen wacher, intelligenter Erscheinung beeindruckt. Er fragte Diogenes, ob er etwas für ihn tun könne, er wolle einem Manne helfen, dessen Weisheit weithin berühmt sei.
    »Ihr könntet beiseitetreten«, erwiderte Diogenes. »Ihr nehmt mir die Sonne.«
    Ich erinnere mich an diese Geschichte nicht um ihrer selbst willen so gut, sondern wegen der Reaktion von Jesus. Er lachte schallend, den Mund weit geöffnet wie ein Bauer, und schlug mit der flachen Hand auf sein Schreibpult. Seine Augen hatten einen irren Glanz.
    Sein Ausbruch war mir peinlich, und ich zischte ihm zu, dass es nicht nötig sei, sich derart aufzuspielen, nur um unserem Lehrer zu gefallen. Doch Andreas küsste ihn. »Jesus erkennt die Weisheit des
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