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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas
Autoren: C. K. Stead
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Geburtstag lasse ich langsam los. Es gibt keinen Grund mehr, große Anstrengungen zu unternehmen oder an bestimmten Dingen festzuhalten. Mein Leben ist gelebt. Meine Geschichte, sorgsam rekonstruiert, ist erzählt. Es gab Irrtümer und Verluste, die gibt es immer, aber das Ergebnis ist durchaus zufriedenstellend. Alles, was jetzt noch kommt, falls noch etwas kommt, betrachte ich als Finale und, sofern es erfreulich und interessant ist, als Zugabe.
    Tot bin ich aber noch nicht, ich liege auch nicht im Sterben. Noch bewegen mich das Irdische und meine Vergangenheit. Die jüngsten Nachrichten aus Jerusalem – Aufstände, Bürgerkrieg und der Aufmarsch von vier Legionen, immerhin 24000 Fußsoldaten, unter dem Kommando von Titus, dem Sohn des neuen Kaisers, der die Juden für ihren Ungehorsam grausam bestrafen will – lenken meine Gedanken in eine Vergangenheit zurück, die ich eigentlich vergessen wollte.
    Meine geliebte Frau Thea, Theseus’ Schwester, starb vor drei Jahren. Es war eine schwere Prüfung für mich, und seither gerät meine »Philosophie«, mein Entschluss, ein rationaler Mensch zu sein, bisweilen ins Wanken. Mit feinem Spott über meine Haltung zu Geistererscheinungen und Auferstehungsgeschichten sagte sie manchmal: Sollte es doch ein Leben nach dem Tode geben, werde sie mich dann und wann aufsuchen und mir Dinge ins Ohr flüstern, die mich überraschen sollten. Vor dem Schlafengehen mache ich oft einen Spaziergang am Strand, und in der Dunkelheit spreche ich dann mit ihr. Ich sage ihr, dass ich sie liebe und so manches andere, was man sagen sollte, bevor es zu spät ist. Dann horche ich auf Antworten, doch leider schweigt meine Thea bis heute, und ich fürchte, sie wird auch weiterhin schweigen.
    Meine Kinder fragen mich manchmal nach meiner Vergangenheit, aber es scheint ihnen nicht besonders wichtig zu sein. Sie wollen wissen, wie aus Judas Iskariot, der ich die ersten dreißig Jahre meines Lebens war, für die nächsten vierzig Idas von Sidon wurde. Ich antworte mit Fragmenten, Anekdoten, zufälligen Erinnerungen, nie habe ich ihnen die ganze Geschichte erzählt. Nicht weil ich mich der »Wahrheit« schämte. Es gibt gute Gründe, sie für mich zu behalten, obwohl ich weiß, dass meine Kinder das Geheimnis wahren würden. Aber ich ziehe es doch vor, mich ihnen als der zu präsentieren, der ich geworden bin, und nicht als der, der ich war, bevor ich die wichtigsten Lektionen meines Lebens lernte.
    Nun aber ist es wohl Zeit, die ganze Geschichte zu erzählen.
    Unsere Erde:
    Kugel oder Scheibe
    – eine wichtige Frage.
    Unter meinem Fenster
    mein Enkel Hektor,
    er fragt:
    »Mami, warum
    spricht Großvater
    so komisch?«
    Sie erklärt,
    es sei der Dialekt
    meiner Herkunft.
    Kein Regen in Sicht,
    den mein Obstgarten
    dringend braucht.
    Im Dunkel
    der Vergangenheit
    ein dürrer Feigenbaum,
    den Jesus verflucht.
    Später, so sagt man,
    hänge ich daran.

Kapitel 2
    Als ich Jesus kennenlernte, waren wir sechs oder sieben Jahre alt. Sein Vater war Zimmermann, meiner ein wohlhabender Kaufmann, sodass zwischen uns ein soziales Gefälle bestand, zumal mein Vater nicht nur wohlhabend war, sondern einer priesterlichen Familie entstammte, den Sadduzäern, die ursprünglich in der judäischen Stadt Kariot beheimatet waren. Als ich später ein Jünger Jesu war, betonten die anderen elf gern den Unterschied zwischen uns: sie, die bodenständigen Galiläer, und ich, der Mann aus Kariot, kurz »Iskariot«. Dass ich dort nie gelebt hatte, interessierte sie nicht. Wichtig war nur, dass ich anders war, nicht aus der Region stammte und einer privilegierten Familie angehörte. Auch das sprach gegen mich. Doch obwohl ich nicht der war, den Jesus am meisten liebte oder in dessen Gesellschaft er sich am geborgensten fühlte, war ich derjenige, den er am längsten kannte.
    Der Vater meines Vaters und dessen Vater waren Rabbis gewesen, der Bruder meines Vaters war Priester im Tempel von Jerusalem. Meine Eltern waren stolz auf ihre gesellschaftliche Stellung, und doch hatte ich oft den Eindruck – Kinder spüren dergleichen, ohne dass man es ihnen ausdrücklich mitteilt –, dass mein Vater bei der Familie in Ungnade gefallen war, vermutlich weil er meine Mutter geheiratet hatte, die keiner Priesterfamilie entstammte. Sein größter Wunsch war, dass ich, sein einziges Kind, die verlorene Familienehre wiederherstellen sollte. Daher bestimmte er einen gelehrten Mann, Andreas, zu meinem Lehrer, und ich suchte ihn vier Mal pro
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