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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas
Autoren: C. K. Stead
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Diogenes und erfreut sich an ihr«, sagte er. »Nimm dir ein Beispiel daran, Judas.«
    Viele Jahre später, als wir zu Fuß durchs Land zogen, predigten und Armut und Askese übten, erinnerte Jesus mich einmal an diese Lektion.
    »Wir sind die Kyniker von heute«, sagte er. »Hunde-Philosophen.«
    Wir waren müde und erhitzt, und ich war nicht zum Scherzen aufgelegt. »Dann bist du wohl unser Diogenes«, sagte ich mit beißendem Unterton.
    »Wenn du meinst«, erwiderte er. Es lag etwas Anmaßendes, Selbstzufriedenes in seiner Antwort, ein Ton, der später sowohl die römischen Machthaber als auch die jüdische Priesterschaft gegen ihn aufbringen sollte. In jenen frühen Tagen aber hatten seine Äußerungen stets etwas Humorvolles, einen Hauch Selbstironie.
    Wir hatten gerade, wie so oft, darüber debattiert, wie wenig man zum Leben brauchte. Er hatte uns, seinen zwölf Jüngern, befohlen, nur eine Djellaba zu tragen und in unserem Schulterbeutel nicht viel mehr als einen Überwurf gegen die Abendkühle mitzuführen. Nicht einmal Wanderstöcke sollten wir benutzen, einer seiner typischen spontanen Einfälle, wobei dieser sich auf Dauer nicht durchsetzte. Warum, fragte er, sollten wir uns vor Wegelagerern schützen, wenn wir ja doch nichts bei uns hatten, das sich zu stehlen lohnte? Davon abgesehen sollten wir ohnehin jedem geben, was er von uns erbat, falls wir es besaßen. Es gab also nichts, was wir mit Stöcken hätten beschützen müssen.
    Ich trug die eine erlaubte Djellaba und besaß nur den spärlich gefüllten Beutel, aber ich weigerte mich, meinen Wanderstock abzugeben. Er war mir wie ein Freund, denn er erleichterte das Gehen, wenn wir steinige, unwegsame Gegenden durchstreiften, und in der Wildnis gab er mir ein Gefühl von Sicherheit.
    »Verlang nicht von mir, dass ich zwischen meinen beiden Freunden wähle«, sagte ich zu ihm, und er lachte auf diese ganz besondere Art, wie er es nur tat, wenn wir allein waren. Dieses Lachen signalisierte, dass ich mir ihm gegenüber mehr herausnehmen durfte als die anderen.
    In diesem Moment waren wir allein – er schickte uns oft in Zweier- oder Dreiergruppen mit Aufträgen los – und befanden uns auf einem holprigen Weg, der nach Kapernaum führte. Dort sollten wir am Abend wieder mit den anderen zusammentreffen. Wir waren gereizt, weil wir an diesem Tag nicht auf offene Ohren gestoßen waren und keine neuen Anhänger gewonnen hatten, dafür hatten uns Jungen sogar mit Steinen beworfen. Als wir die Kuppe eines kleinen Hügels erreichten, sahen wir uns plötzlich einem Rudel Wildhunde gegenüber.
    »Sieh da«, sagte Jesus. »Unsere Brüder, die Hunde-Philosophen.«
    Es war ein netter Versuch, und tatsächlich wirkte Jesus keineswegs verängstigt, aber eine wundersame Verwandlung war nicht zu erwarten. Es waren und blieben Wildhunde, keine Philosophen, und sie waren hungrig.
    Sie hatten Angst vor uns, wichen aber nicht von der Stelle. Sie duckten sich, knurrten und bleckten die Zähne. Es war förmlich zu sehen, wie sich das Leittier fragte: »Schaffen wir das? Die sind zwar nur zu zweit, aber vielleicht sind sie stark.«
    Ich trat ihnen entgegen und schwang meinen Stock. Sie schreckten zurück, jaulten und stoben in alle Richtungen auseinander. Im Nu hatten sie sich über den ganzen Hügel zerstreut. Nur einer blieb zurück, er war schwer verletzt, und ich erlöste ihn durch einen gezielten Hieb auf den Kopf von seinen Qualen.
    Als wir weitergingen, wartete ich darauf, was Jesus sagen und wie er mir danken würde, er aber sagte nichts. Schließlich konnte ich nicht länger an mich halten: »Du wolltest mir meinen Stock abnehmen.«
    »Das stimmt.«
    »Willst du es immer noch?«
    »Ja.«
    »Aber wenn ich ihn nicht gehabt hätte, wären wir jetzt vielleicht tot. In Stücke gerissen und aufgefressen.«
    Er lächelte – eigentlich war es eher ein Grinsen – und sagte: »Aber du hattest deinen Stock ja noch.«
    Als Kinder kamen wir gut miteinander aus und wurden schnell Freunde. Er war klug, aber auch ich war nicht dumm. Das Lernen machte uns Freude, wir unterhielten uns mit Wortspielen und wetteiferten im Auswendiglernen langer Passagen aus den Heiligen Schriften. Diese Texte haben sich wie Sedimentgestein in unseren Köpfen festgesetzt. Auch heute sind sie mir noch präsent – nicht als Quell meines Glaubens, sondern als erbaulicher Zeitvertreib. Als Jesus predigend durchs Land zog, bediente er sich ihrer ausgiebig. Für mich war und ist die Sprache dieser
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