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Memoria

Memoria

Titel: Memoria
Autoren: Raymond Khoury
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Prolog
    I
    Durango, Vizekönigreich Neuspanien
(heutiges Mexiko)
1741
    Grauen befiel Álvaro de Padilla, als seine Visionen sich auflösten und seine müden Augen allmählich wieder klar zu sehen begannen.
    Der Jesuitenpater fragte sich, in was für eine Welt er jetzt eintrat. Die Ungewissheit machte ihm Angst, war zugleich jedoch auf seltsame Weise berauschend. Er hörte seinen eigenen stoßweisen Atem, fühlte den Puls seines wild hämmernden Herzens in den Schläfen und versuchte sich zu beruhigen. Allmählich nahm seine Umgebung wieder Gestalt an. Als seine Finger das Stroh der Matte erspürten, auf der er lag, wusste er, dass er von seiner Reise zurückgekehrt war.
    Seine Wangen fühlten sich eigenartig an, und als er sie mit den Fingern berührte, erkannte er, dass sie tränenüberströmt waren. Dann wurde ihm bewusst, dass auch sein Rücken nass war, als habe er nicht auf einem trockenen Bett, sondern in einer Pfütze gelegen. Er fragte sich, woher das kam, überlegte, ob der Rücken seiner Soutane schweißdurchtränkt war, doch gleich darauf bemerkte er, dass auch seine Beine nass waren, und er begann zu zweifeln, ob das Schweiß war.
    Was er gerade erlebt hatte, war ihm unbegreiflich.
    Er versuchte sich aufzusetzen, aber alle Kraft schien aus seinem Körper gewichen. Er hatte den Kopf kaum von der Matte gehoben, als dieser bleischwer wurde und wieder auf das Strohbett zurückfiel.
    «Bleibt liegen», sagte Eusebio de Salvatierra. «Euer Geist und Körper brauchen Zeit, sich zu erholen.»
    Álvaro schloss die Augen, aber der Schock, der ihn noch immer durchströmte, ließ sich nicht verdrängen.
    Er hätte es nicht geglaubt, wenn er es nicht selbst erlebt hätte. Doch das hatte er soeben, und es war verstörend, erschreckend und … verblüffend. Ein Teil von ihm wagte kaum darüber nachzudenken, während ein anderer Teil verzweifelt danach drängte, es noch einmal zu erleben, jetzt, sofort. Noch einmal in das Unmögliche eintauchen. Aber der schroffe, disziplinierte Teil von ihm trat das Flämmchen dieser kranken Vorstellung rasch aus und brachte ihn wieder auf den Pfad der Tugend zurück, dem er sein Leben geweiht hatte.
    Er sah Eusebio an. Sein Mitbruder lächelte ihm zu, sein Gesicht ein Inbild der Gelassenheit.
    «Ich komme in einer oder zwei Stunden zurück, wenn Ihr wieder ein wenig zu Kräften gekommen seid.» Der Priester nickte ihm ermutigend zu. «Für das erste Mal habt Ihr Euch gut gehalten, mein alter Freund. Wirklich sehr gut.»
    Álvaro fühlte, wie die Angst wieder von ihm Besitz ergriff. «Was habt Ihr mit mir gemacht?»
    Eusebio musterte ihn mit einem beseelten Blick, dann legte er die Strin in nachdenkliche Falten. «Ich fürchte, ich habe eine Tür geöffnet, die Ihr vielleicht nie wieder werdet schließen können.»
     
    Mehr als zehn Jahre waren vergangen, seit sie gemeinsam hierher nach Nueva España – Neuspanien – gekommen waren, ordinierte Priester der Gesellschaft Jesu, ausgesandt von ihren Ältesten in Kastilien, um die mittlerweile langjährige Tradition fortzusetzen, in noch nicht erschlossenen Gebieten Missionen aufzubauen. Ihre Aufgabe war es, die armen Seelen der Eingeborenen aus der Dunkelheit ihres Götzenkultes und ihrer heidnischen Verderbtheit zu erretten.
    Es war eine Herausforderung, aber sie waren nicht die Ersten. In der Nachfolge der
conquistadores
waren seit mehr als zweihundert Jahren franziskanische, dominikanische und jesuitische Missionare in die Neue Welt aufgebrochen, und nach zahlreichen Kriegen und Aufständen waren viele Eingeborenenstämme von den Kolonisatoren unterworfen und in die Kultur der Spanier und der Mischlinge,
mestizos,
eingegliedert worden. Gleichwohl gab es noch viel Arbeit zu tun und viele Stämme zu bekehren.
    Mit der Hilfe von bereits Bekehrten errichteten Álvaro und Eusebio ihre Mission in einem üppigen, bewaldeten Tal tief in den Falten der Sierra Madre Occidental, im Kerngebiet des Stammes der Wixáritari. Mit der Zeit wuchs die Mission. Mehr und mehr kleine Gemeinschaften, die isoliert überall in den wilden Bergen und Schluchten lebten, schlossen sich ihrer
congregación
an. Die Priester bauten eine enge Bindung zu diesen Menschen auf, und gemeinsam hatten Álvaro und Eusebio Tausende Eingeborener getauft. Anders als die Franziskaner, die von den Indianern erwarteten, europäische Lebensweisen und Wertvorstellungen zu übernehmen, folgten die zwei Priester der jesuitischen Tradition, den Indianern viel von ihrer früheren
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