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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern
Autoren: Lisa Genova
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schon. Im letzten Winter war er allein nach LA geflogen, um sie in einem Stück zu sehen. Alice, die zu der Zeit zu viele dringende Dinge zu erledigen hatte, hatte sich nicht freimachen können. Als sie jetzt in Lydias gequälte Augen sah, konnte sie sich nicht mehr erinnern, was das für dringende Dinge gewesen waren. Sie hatte nichts gegen eine Schauspielkarriere an sich, aber sie fand, dass Lydias beispielloses Streben danach, ohne dabei aber eine richtige Ausbildung zu haben, an Leichtfertigkeit grenzte. Wenn sie jetzt nicht aufs College ging, ein Basiswissen oder eine formale Ausbildung auf irgendeinem Gebiet erwarb, wenn sie keinen Abschluss machte – was würde sie dann tun, wenn es mit der Schauspielerei nicht klappen sollte?
    Sie dachte an die Kondome im Badezimmer. Was, wenn Lydia schwanger wurde? Alice war besorgt, Lydia könnte eines Tages in einem Leben gefangen sein, das unerfüllt war, voller Reue. Sie sah ihre Tochter an und sah so viel vergeudetes Potenzial, so viel vergeudete Zeit.
    »Du wirst nicht jünger, Lydia. Das Leben vergeht so schnell.«
    »Da gebe ich dir recht.«
    Das Essen kam, aber keine von ihnen nahm eine Gabel in die Hand. Lydia tupfte sich mit ihrer handbestickten Leinenserviette die Augen ab. Sie fielen immer wieder in dasselbe Streitgespräch zurück, und Alice kam es vor, als würden sie versuchen, mit ihren Köpfen eine Betonwand einzureißen. Es würde nie produktiv sein und führte immer nur dazu, dass sie sich gegenseitig wehtaten und dauerhaften Schaden anrichteten. Sie wünschte, Lydia könnte die Liebe und Weisheit in dem sehen, was sie für sie wollte. Sie wünschte, sie könnte einfach die Hände über den Tisch ausstrecken und sie umarmen, aber es waren zu viele Teller, Gläser und Jahre der Distanz zwischen ihnen.
    Ein plötzlicher Aufruhr ein paar Tische weiter lenkte ihre Aufmerksamkeit von ihnen selbst ab. Mehrere Kamerasblitzten auf, und es bildete sich eine kleine Gruppe von Stammgästen und Kellnern, alle Blicke auf eine Frau gerichtet, die ein bisschen wie Lydia aussah.
    »Wer ist das denn?«, fragte Alice.
    »Mom«, sagte Lydia in einem Tonfall, der peinlich berührt und überheblich zugleich war, einstudiert im Alter von dreizehn Jahren. »Das ist Jennifer Aniston.«
    Sie aßen ihr Dinner und redeten nur noch von harmlosen Dingen wie dem Essen und dem Wetter. Alice wollte gern mehr über Lydias Beziehung zu Malcolm herausfinden, aber die Glut von Lydias Emotionen schwelte noch immer heiß, und Alice befürchtete, einen weiteren Streit zu entfachen. Sie bezahlte die Rechnung, und sie verließen das Restaurant – gesättigt, aber unzufrieden.
    »Entschuldigen Sie, Ma’am!«
    Der Kellner holte sie auf dem Gehsteig ein.
    »Sie haben das hier liegen lassen.«
    Alice hielt einen Augenblick inne, versuchte zu begreifen, wie der Kellner in den Besitz ihres Blackberrys gekommen sein konnte. Sie hatte dort weder in ihre E-Mails noch in ihren Kalender gesehen. Sie wühlte in ihrer Handtasche. Kein Blackberry. Sie musste ihn herausgenommen haben, als sie nach ihrem Portemonnaie gesucht hatte, um zu bezahlen.
    »Danke.«
    Lydia sah sie fragend an, als wollte sie etwas sagen, was nicht das Essen oder das Wetter betraf, aber dann tat sie es doch nicht. Schweigend gingen sie zurück zu ihrer Wohnung.

    »John?«
    Alice wartete, verharrte in der Diele und hielt den Griff ihres Koffers umklammert. Das Harvard Magazine lag zuoberst auf dem Haufen nicht eingesammelter Post, die vor ihr auf demBoden verstreut war. Die Uhr im Wohnzimmer tickte, und der Kühlschrank summte. Ein warmer, sonniger Spätnachmittag lag hinter ihr, aber das Haus kam ihr kalt, düster und die Luft schal vor. Unbewohnt.
    Sie hob die Post auf und ging in die Küche, und ihr Rollkoffer folgte ihr wie ein treues Haustier. Ihr Flug hatte Verspätung gehabt, und nun kam sie unpünktlich nach Hause, selbst der Uhr der Mikrowelle nach. Er hatte einen ganzen Tag Zeit gehabt, einen ganzen Samstag, um zu arbeiten.
    Das rote Lämpchen auf ihrem Anrufbeantworter starrte sie an, ohne zu blinken. Sie sah am Kühlschrank nach. Keine Nachricht an der Tür. Nichts.
    Sie hielt den Griff ihres Koffers noch immer fest, während sie in der dunklen Küche stand und zusah, wie mehrere Minuten auf der Mikrowelle verstrichen. Die enttäuschte, aber verständnisvolle Stimme in ihrem Kopf verhallte allmählich zu einem Flüstern, während eine andere, urwüchsigere laut wurde und sich ausdehnte. Sie überlegte, ob sie ihn anrufen
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