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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern
Autoren: Lisa Genova
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geachtet, was sie tat. Sie ließen ihr viel Freiraum in ihrer Welt, damit sie sich ihre eigenen Gedanken machen konnte, frei von dem Mikromanagement, das so vielen Kindern ihres Alters auferlegt wurde. Das Berufsleben ihrer Eltern diente als leuchtendes Beispiel dafür, was man erreichen konnte, wenn man sich hochfliegende und individuelle, einzigartige Ziele setzte und sie mit Leidenschaft, Fleiß und harter Arbeit verfolgte. Lydia verstand durchaus den Ratschlag ihrer Mutter, wie wichtig eine College-Ausbildung war, aber sie warselbstbewusst und unerschrocken genug, um ihn in den Wind zu schlagen.
    Außerdem stand sie damit nicht allein da. Der heftigste Streit, den Alice je mit John gehabt hatte, entbrannte nach seinem knappen Kommentar zu dem Thema – ich finde das wunderbar, sie kann doch später immer noch aufs College gehen, falls sie sich entschließen sollte, dass sie das überhaupt will .
    Alice überprüfte die Adresse in ihrem Blackberry, drückte auf die Klingel der Wohnung Nr. 7 und wartete. Sie wollte schon ein zweites Mal klingeln, als Lydia die Tür öffnete.
    »Mom, du bist früh dran«, sagte Lydia.
    Alice warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
    »Ich bin genau pünktlich.«
    »Du hast gesagt, dein Flug kommt um acht an.«
    »Ich habe fünf gesagt.«
    »Ich habe acht Uhr in meinen Kalender eingetragen.«
    »Lydia, es ist Viertel vor sechs, und ich bin hier.«
    Lydia blickte unschlüssig und leicht panisch, wie ein Eichhörnchen, das auf der Straße von einem herannahenden Wagen überrascht wird.
    »Entschuldige, komm rein.«
    Sie zögerten beide, bevor sie sich umarmten, als seien sie im Begriff, einen neu einstudierten Tanz zu üben, und nicht ganz sicher, wie der erste Schritt aussehen oder wer von ihnen führen sollte. Oder vielleicht war es auch ein alter Tanz, aber sie hatten ihn so lange nicht mehr zusammen aufgeführt, dass sich beide unsicher waren, was die Choreografie betraf.
    Alice konnte die Konturen von Lydias Rückgrat und Rippen durch ihr T-Shirt spüren. Sie sah zu mager aus, gut zehn Pfund leichter, als Alice sie in Erinnerung hatte. Sie hoffte, dass der Grund eher der war, dass sie viel zu tun hatte, und keine bewusste Diät. Blond und einen Meter siebenundsechzig groß, gut sieben Zentimeter größer als Alice, stach Lydiabei der überwiegenden Mehrheit kleiner Italienerinnen und Asiatinnen in Cambridge hervor, aber in Los Angeles waren die Wartezimmer für jedes Vorsprechen offenbar voller Frauen, die genauso aussahen wie sie.
    »Ich habe für neun Uhr reserviert. Warte hier, ich bin gleich wieder da.«
    Alice reckte den Hals, um vom Flur aus einen Blick in die Küche und das Wohnzimmer zu werfen. Die Einrichtung, aller Wahrscheinlichkeit nach Fundstücke vom Sperrmüll und ausrangierte Möbel von Eltern, sah insgesamt durchaus hip aus – eine orangefarbene Couchgarnitur, ein retroinspirierter Couchtisch, ein Küchentisch und Stühle im Brady-Bunch-Stil. Die weißen Wände waren kahl bis auf ein Marlon-Brando-Poster über der Couch. Die Luft roch beißend nach Putzmittel, als hätte Lydia vor Alice’ Ankunft in letzter Sekunde Maßnahmen ergriffen, um die Wohnung in Ordnung zu bringen.
    Um genau zu sein, wirkte sie ein bisschen zu ordentlich. Es lagen keine DVDs oder CDs herum, keine Bücher oder Zeitschriften auf dem Couchtisch, es waren keine Bilder am Kühlschrank, keine Spur von Lydias Interessen oder Sinn für Ästhetik, nirgends. Jeder hätte hier leben können. Dann sah sie den Haufen Männerschuhe auf dem Boden, links neben der Tür hinter ihr.
    »Erzähl mir von deinen Mitbewohnern«, sagte Alice, als Lydia aus ihrem Zimmer zurückkam, ein Handy in der Hand.
    »Sie sind arbeiten.«
    »Was für Arbeit?«
    »Der eine ist Barmann, und der andere fährt Essen aus.«
    »Ich dachte, sie sind beide Schauspieler.«
    »Sind sie auch.«
    »Verstehe. Wie heißen sie gleich wieder?«
    »Doug und Malcolm.«
    Es blitzte nur für einen Moment auf, aber Alice sah es, und Lydia sah, dass sie es sah. Lydia war rot geworden, als sieMalcolms Namen nannte, und ihr Blick wich dem ihrer Mutter nervös aus.
    »Wollen wir los? Sie haben gesagt, wir können auch jetzt schon einen Tisch haben«, sagte Lydia.
    »Okay, ich muss nur noch rasch auf die Toilette.«
     
    Während Alice sich die Hände wusch, sah sie sich die Produkte auf dem Tisch neben dem Waschbecken an – Neutrogena-Gesichtsreiniger und -feuchtigkeitslotion, Tom’s-of-Maine-Pfefferminz-Zahncreme, Männerdeodorant, eine Schachtel
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