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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern
Autoren: Lisa Genova
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einmal durchzugehen.
    Zu ihrer großen Verblüffung betrat sie einen bereits dicht gefüllten Saal. Eine eifrige Menge umringte und umkreiste einen Büfetttisch, stürzte sich angriffslustig auf das Essen wie Möwen an einem Stadtstrand. Bevor sie unbemerkt hineinschlüpfen konnte, sah sie Josh, einen ehemaligenHarvard-Kommilitonen und angesehenen Egomanen, der ihr breitbeinig im Weg stand, als sei er drauf und dran, sich auf sie zu stürzen.
    »Das alles nur für mich?«, fragte Alice mit einem verschmitzten Lächeln.
    »Wieso? So essen wir hier jeden Tag. Das ist für einen unserer Entwicklungspsychologen, er hat gestern seine Festanstellung bekommen. Und? Wie behandelt Harvard dich?«
    »Gut.«
    »Ich kann nicht glauben, dass du nach all den Jahren noch immer dort bist. Falls dir dort drüben je langweilig wird, solltest du dir überlegen, ob du nicht hierherkommen willst.«
    »Ich werde es dich wissen lassen. Und? Wie läuft’s bei dir so?«
    »Fantastisch. Komm doch nach dem Vortrag in meinem Büro vorbei, und sieh dir unsere neuesten Modelldaten an. Das wird dich echt umhauen.«
    »Tut mir leid, ich kann nicht, ich fliege gleich im Anschluss nach LA«, sagte sie, dankbar, eine Entschuldigung parat zu haben.
    »Ach, das ist aber schade. Ich glaube, das letzte Mal habe ich dich im vergangenen Jahr auf der Psychonomischen Konferenz gesehen. Deinen Vortrag habe ich damals leider verpasst.«
    »Na ja, einen guten Teil davon wirst du heute zu hören bekommen.«
    »Du recycelst heutzutage deine Vorträge, was?«
    Bevor sie antworten konnte, stieß Gordon Miller zu ihnen, Leiter des Instituts und ihr neuer Superheld: Er rettete sie, indem er Josh bat, ihm beim Herumreichen des Champagners behilflich zu sein. Wie in Harvard gab es auch in Stanford am Institut für Psychologie die Tradition eines Champagnerempfangs für jeden Lehrbeauftragten, der auf seinem Karriereweg den begehrten Meilenstein einer Festanstellung erreicht hatte. Es gab nicht viele Trompeten, die den jeweils nächsten Schrittauf der Karriereleiter eines Professors ankündigten, aber eine Festanstellung war eine davon, eine laute und deutliche.
    Als alle einen Becher in der Hand hielten, betrat Gordon das Podium und klopfte auf das Mikrofon.
    »Dürfte ich für einen Augenblick um Aufmerksamkeit bitten?«
    Allein Joshs übertrieben lautes, abgehacktes Lachen hallte durch den Hörsaal, bevor Gordon fortfuhr.
    »Wir wollen heute Mark zu seiner Festanstellung gratulieren. Ich bin sicher, er ist überglücklich, dieses Ziel endlich erreicht zu haben. Auf die vielen weiteren aufregenden Ziele, die noch vor ihm liegen. Auf Mark!«
    »Auf Mark!«
    Alice stieß mit den Umstehenden an, und dann gingen alle rasch wieder dazu über, zu trinken, zu essen und zu diskutieren. Als die letzten Happen von den Serviertabletts vertilgt und die letzten Tropfen aus der letzten Champagnerflasche geleert waren, betrat Gordon wieder das Podium.
    »Wenn ich nun alle bitten dürfte, Platz zu nehmen, dann können wir mit dem heutigen Vortrag beginnen.«
    Er wartete ein paar Augenblicke, bis sich die rund fünfundsiebzig Zuhörer auf ihren Plätzen eingefunden hatten und zur Ruhe gekommen waren.
    »Es ist mir eine Ehre, Ihnen heute die erste Kolloquiumsrednerin dieses Jahres vorzustellen. Dr. Alice Howland ist die herausragende William-James-Professorin für Psychologie an der Harvard-Universität. Im Laufe der letzten fünfundzwanzig Jahre ihrer eindrucksvollen Karriere hat sie viele wegweisende Kriterien auf dem Gebiet der Psycholinguistik aufgestellt. Sie hat einen interdisziplinären und integrierten Ansatz zur Erforschung der Mechanismen der Sprache entwickelt und weitergeführt. Es ist uns eine Ehre, sie heute zu ihrem Vortrag über die Konzeptuelle und Neuronale Organisation der Sprache bei uns begrüßen zu dürfen.«
    Alice tauschte mit Gordon die Plätze und sah auf ihr Publikum, das den Blick auf sie gerichtet hatte. Während sie darauf wartete, dass der Applaus verebbte, dachte sie an eine Statistik, der zufolge einige Menschen öffentliches Reden mehr fürchteten als den Tod. Sie hingegen liebte es. Sie genoss all die verketteten Bestandteile einer Präsentation vor einem gebannten Publikum – den Vortrag, den Auftritt, das Geschichtenerzählen, das Entfachen einer hitzigen Debatte. Und sie liebte den Adrenalinschwall. Je höher der Einsatz, je anspruchsvoller oder abweisender die Zuhörer, desto mehr beflügelte sie die ganze Erfahrung. John war ein hervorragender
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