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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern
Autoren: Lisa Genova
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Bauch.
     

Schon damals, mehr als ein Jahr zuvor, gab es Neuronen in ihrem Kopf, nicht weit von ihren Ohren, die allmählich erstickt wurden, zu leise, als dass sie es hätte hören können. Manche würden behaupten, dass irgendetwas auf so heimtückische Weise schiefging, dass die Neuronen selbst Ereignisse in Gang setzten, die zu ihrer eigenen Zerstörung führten. Ob molekularer Mord oder zellularer Selbstmord – sie konnten sie nicht vor dem warnen, was geschah, bevor sie starben.

SEPTEMBER 2003
    Alice saß an ihrem Schreibtisch im Schlafzimmer, abgelenkt von den Geräuschen aus dem Erdgeschoss, wo John offenbar von einem Zimmer ins nächste rannte. Sie musste vor ihrem Flug noch die fachliche Beurteilung für einen Aufsatz fertigstellen, der bei der Zeitschrift für Kognitive Psychologie eingereicht worden war, und sie hatte soeben denselben Satz dreimal gelesen, ohne ihn zu verstehen. Auf ihrem Wecker, der ihrer Schätzung nach etwa zehn Minuten vorging, war es halb acht Uhr morgens. Diese ungefähre Zeitangabe und Johns immer lauter und hektischer werdendes Herumgerenne sagten ihr, dass er im Aufbruch war, aber irgendetwas vergessen hatte und es nicht finden konnte. Sie klopfte sich mit ihrem roten Stift auf die Unterlippe, während sie auf die Digitalziffern des Weckers starrte und auf das wartete, was, wie sie wusste, gleich kommen würde.
    »Ali?«
    Sie warf ihren Stift auf den Schreibtisch und seufzte. Unten traf sie ihn im Wohnzimmer an, auf den Knien, wo er zwischen den Sofakissen herumtastete.
    »Schlüssel?«, fragte sie.
    »Brille. Bitte halt mir keine Vorträge, ich bin schon spät dran.«
    Sie folgte seinem gehetzten Blick zum Kaminsims, wo die antike Waltham-Uhr, geschätzt wegen ihrer Genauigkeit, acht Uhr anzeigte. Er sollte wissen, dass man sich nicht auf sieverlassen durfte. Die Uhren in ihrem Haus zeigten selten die tatsächliche Zeit an. Alice hatte sich in der Vergangenheit selbst allzu oft von ihren nur scheinbar zuverlässigen Zifferblättern täuschen lassen und sich schon vor langer Zeit angewöhnt, ausschließlich auf ihre Armbanduhr zu vertrauen. Und natürlich, sie machte einen Zeitsprung zurück, als sie die Küche betrat. Dort erklärte die Mikrowelle beharrlich, es sei erst sechs Uhr zweiundfünfzig.
    Sie sah über die glatte, aufgeräumte Granitoberfläche des Küchentresens, und da lag sie, neben der Pilzschale, in der sich ungeöffnete Briefe türmten. Nicht unter irgendetwas, nicht hinter irgendetwas, der freie Blick auf sie war durch nichts verstellt. Wie konnte er, jemand, der so klug war, ein Wissenschaftler, etwas nicht sehen, das genau vor ihm war?
    Natürlich, viele ihrer eigenen Dinge hatten in letzter Zeit ebenfalls angefangen, sich boshaft kleine Verstecke zu suchen. Aber das gab sie vor ihm nicht zu, und sie bezog ihn nie in die Suche danach mit ein. Erst neulich hatte sie, zum Glück ohne Johns Wissen, einen verrückten Vormittag lang erst im ganzen Haus und dann in ihrem Büro nach dem Ladegerät für ihren Blackberry gesucht. Als sie nicht mehr weiterwusste, hatte sie aufgegeben, war zum Geschäft gefahren und hatte ein neues gekauft, nur um das alte später am Abend wiederzufinden, eingestöpselt in der Steckdose auf ihrer Seite des Betts – wie zu erwarten gewesen war. Vermutlich war es bei ihnen beiden darauf zurückzuführen, dass sie zu viele Dinge gleichzeitig erledigten und viel zu viel um die Ohren hatten. Und auf das Älterwerden.
    Er stand im Türrahmen, sah die Brille in ihrer Hand, aber nicht sie an.
    »Versuch das nächste Mal, so zu tun, als ob du eine Frau wärst, während du suchst«, sagte Alice lächelnd.
    »Ich werde dabei einen deiner Röcke tragen. Ali, bitte, ich bin wirklich spät dran.«
    »Wenn’s nach der Mikrowelle geht, hast du noch jede Menge Zeit«, sagte sie und reichte ihm die Brille.
    »Danke.«
    Er schnappte sie sich wie ein Staffelläufer den Stab in einem Rennen und eilte zur Haustür.
    »Wirst du zu Hause sein, wenn ich am Samstag zurückkomme?«, fragte sie seinen Rücken, während sie ihm durch die Diele folgte.
    »Ich weiß es noch nicht, am Samstag habe ich im Labor alle Hände voll zu tun.«
    Er schnappte sich seine Aktentasche, Telefon und Schlüssel vom Tisch in der Diele.
    »Gute Reise, gib Lydia einen dicken Kuss von mir. Und versuch, dich nicht mit ihr zu zanken.«
    Sie fing ihr Bild im Dielenspiegel auf – ein vornehmer, hochgewachsener Mann mit leicht ergrautem braunen Haar und Brille und eine zierliche Frau
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