Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern
Autoren: Lisa Genova
Vom Netzwerk:
das Haus gehörte, las ein Buch und trank ein Getränk. Das Buch war dick, und das Getränk war gelblich braun, mit Eis darin.
    Sie nahm sich ein noch dickeres Buch vom Couchtisch als das, was der Mann las, und blätterte darin. Ihre Augen verharrten auf Diagrammen von Wörtern und Buchstaben, die durch Pfeile, Striche und kleine Lutscher mit anderen Wörtern und Buchstaben verbunden waren. Sie blieb an einzelnen Wörtern hängen, während sie die Seiten durchblätterte – Enthemmung, Phosphorylierung, Gene, Acetylcholin, Voraktivierung, Transienz, Dämonen, Morpheme, phonologisch.
    »Ich glaube, dieses Buch habe ich schon einmal gelesen«, sagte Alice.
    Der Mann sah auf das Buch, das sie in der Hand hielt, und sah dann sie an.
    »Du hast mehr getan als das. Du hast es geschrieben. Wir beide haben dieses Buch zusammen geschrieben.«
    Sie zögerte, ihn beim Wort zu nehmen, klappte das Buch zu und las den glänzenden blauen Umschlag. Vom Molekül zum Verstand von John Howland, Ph.D., und Alice Howland, Ph.D. Sie sah zu dem Mann im Sessel hoch. Er ist John . Sie blätterte zu den ersten Seiten vor. Inhaltsverzeichnis. Stimmung und Emotion, Motivation, Erregung und Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache. Sprache .
    Sie schlug das Buch irgendwo gegen Ende auf. Unendliche Möglichkeiten des Ausdrucks, erlernt und doch instinktiv, Semantizität, Syntax, Kasusgrammatik, unregelmäßige Verben, mühelos und automatisch, universell . Die Wörter, die sie las, schienen sich an dem erdrückenden Unkraut und Schlamm in ihrem Verstand vorbeizudrängen, hin zu einem Ort, der noch unversehrt und intakt war, der noch durchhielt.
    »John«, sagte sie.
    »Ja.«
    Er legte sein Buch beiseite und richtete sich auf der Kante seines großen, weißen Sessels auf.
    »Ich habe dieses Buch mit dir geschrieben«, sagte sie.
    »Ja.«
    »Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an dich. Ich erinnere mich, dass ich einmal sehr klug war.«
    »Oh ja, das warst du, du warst der klügste Mensch, den ich je gekannt habe.«
    Dieses dicke Buch mit dem glänzenden blauen Umschlag stand für so vieles von dem, was sie einmal gewesen war. Ich wusste einmal, wie der Verstand die Sprache handhabt, und ich konnte kommunizieren, was ich wusste. Ich war einmal jemand, der eine Menge wusste. Jetzt fragt mich niemand mehr nach meiner Meinung oder meinem Rat. Das vermisse ich. Ich war einmal neugierig und unabhängig und selbstbewusst. Ich vermisse es, mir der Dinge sicher zu sein. Es liegt kein Frieden darin, sich ständig aller Dinge unsicher zu sein. Ich vermisse es, alles mit Leichtigkeit zu tun. Ich vermisse es, ein Teil von dem zu sein, was geschieht. Ich vermisse es, mich erwünscht zu fühlen. Ich vermisse mein Leben und meine Familie. Ich habe mein Leben und meine Familie geliebt .
    Sie wollte ihm alles sagen, woran sie sich erinnerte undwas sie dachte, aber sie konnte all diese Erinnerungen und Gedanken, die sich aus so vielen Wörtern, Redewendungen und Sätzen zusammenfügten, nicht an dem erdrückenden Unkraut und Schlamm vorbeischicken und hörbar machen. Sie kürzte diesen Wust von Gedanken und konzentrierte sich mit aller Kraft auf das Wesentliche. Der Rest würde an jenem unversehrten Ort bleiben und weiter durchhalten müssen.
    »Ich vermisse mich selbst.«
    »Ich vermisse dich auch, Ali, so sehr.«
    »Ich hatte nie vor, so zu werden.«
    »Ich weiß.«

SEPTEMBER 2005
    John saß am Ende eines langen Tischs und nahm einen großen Schluck von seinem schwarzen Kaffee. Er schmeckte extrem stark und bitter, aber es war ihm egal. Er trank ihn nicht wegen des Geschmacks. Er würde ihn schneller trinken, wenn er könnte, aber er war kochend heiß. Er würde noch zwei oder drei große Tassen brauchen, bis er hellwach und funktionsfähig war.
    Die meisten Leute, die hereinkamen, kauften sich ihr Koffein zum Mitnehmen und eilten weiter. John hatte erst in einer Stunde eine Laborbesprechung, und er verspürte keinen besonderen Drang, heute früher in sein Büro zu kommen. Er war damit zufrieden, sich Zeit zu lassen, sein Zimtscone zu essen, seinen Kaffee zu trinken und die New York Times zu lesen.
    Er schlug als Erstes den Gesundheitsteil auf, wie er es nun schon seit über einem Jahr bei jeder Zeitung tat, die er las, eine Gewohnheit, die längst
     einen Großteil der Hoffnung ersetzt hatte, die ihn ursprünglich zu diesem Verhalten inspiriert hatte. Er las den ersten Artikel auf der Seite und
     schluchzte laut auf, während sein Kaffee abkühlte.
    Amylex-Versuch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher