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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern
Autoren: Lisa Genova
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Textmarker zu Hilfe nehmen konnte. Und auf Papier könnte sie den Brief mit in ihr Schlafzimmer nehmen, um ihn dort zu lesen. Sie wollte ihn ausdrucken, aber sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte. Sie wünschte, ihr früheres Selbst, das Selbst, bevor die Alzheimer-Krankheit ihr so viel von ihr geraubt hatte, hätte dem Brief eine Anleitung zum Ausdrucken beigefügt.
    Sie las ihn sich noch einmal durch. Es war faszinierend und surreal, als würde sie ein Tagebuch lesen, das sie als Teenager geführt hatte, heimliche und tief empfundene Worte, geschrieben von einem Mädchen, an das sie sich nur noch undeutlich erinnern konnte. Sie wünschte, sie hätte mehr geschrieben. Bei diesen Worten fühlte sie sich traurig und stolz, stark und erleichtert. Sie holte einmal tief Luft, atmete aus und ging nach oben.
    Als sie das obere Ende der Treppe erreichte, hatte sie vergessen, weswegen sie hochgegangen war. Es war irgendetwas Wichtiges und Dringendes gewesen, so viel wusste sie noch, aber sonst nichts. Sie ging wieder nach unten und suchte nach Spuren davon, wo sie soeben gewesen war. Sie fand den eingeschalteten Computer mit einem Brief an sich auf dem Bildschirm. Sie las ihn und ging wieder nach oben.
    Sie öffnete die Schublade eines Tischs neben dem Bett. Sie nahm Päckchen mit Taschentüchern, Stifte, Post-it-Zettel,eine Flasche Lotion, ein paar Hustenbonbons, Zahnseide und ein paar Münzen heraus. Sie breitete alles auf dem Bett aus und berührte jeden einzelnen Gegenstand, einen nach dem anderen. Taschentücher, Stift, Stift, Stift, Post-it-Zettel, Münzen, Bonbon, Bonbon, Seide, Lotion.
    »Alice?«
    »Was?«
    Sie schnellte herum. John stand im Türrahmen.
    »Was tust du denn hier oben?«, fragte er.
    Sie sah auf die Gegenstände auf dem Bett.
    »Ich suche etwas.«
    »Ich muss kurz zurück ins Büro, um einen Aufsatz zu holen, den ich vergessen habe. Ich nehme den Wagen, dann werde ich nur ein paar Minuten weg sein.«
    »Okay.«
    »Hier, es ist Zeit, nimm die, bevor ich gehe.«
    Er reichte ihr ein Glas Wasser und eine Handvoll Pillen. Sie schluckte jede einzelne.
    »Danke«, sagte sie.
    »Gern geschehen. Ich bin gleich wieder da.«
    Er nahm ihr das leere Glas ab und verließ das Zimmer. Sie legte sich neben dem ehemaligen Inhalt der Schublade aufs Bett und schloss die Augen, und sie fühlte sich traurig und stolz, stark und erleichtert, während sie wartete.

    »Alice, bitte zieh deinen Talar an, und setz deinen Hut auf, wir müssen los.«
    »Wohin fahren wir?«, fragte Alice.
    »Harvard-Commencement.«
    Sie warf wieder einen Blick auf das Gewand. Sie verstand es noch immer nicht.
    »Was heißt ›Commencement‹?«
    »Das ist der Abschlusstag in Harvard. ›Commencement‹ heißt ›Beginn‹.«
    Commencement. Abschluss von Harvard. Ein Beginn. Sie drehte das Wort in ihren Gedanken hin und her. Der Abschluss von Harvard bedeutete einen Beginn, den Beginn des Erwachsenendaseins, den Beginn des Berufslebens, den Beginn des Lebens nach Harvard. Commencement. Sie mochte das Wort und wollte es in Erinnerung behalten.
    Sie gingen über einen belebten Gehweg in ihren dunkelrosa Gewändern und schwarzen Plüschhüten. Sie fühlte sich peinlich auffällig und traute Johns Auswahl ihrer Garderobe in den ersten Minuten ihres Weges nicht ein bisschen. Dann, auf einmal, waren sie überall. Unmengen von Leuten in ähnlichen Gewändern und Hüten, aber in den unterschiedlichsten Farben, strömten aus allen Richtungen zu ihnen auf den Gehsteig, und bald liefen sie alle wie auf einer kunterbunten Kostümparade hintereinander her.
    Zu den getragenen, feierlichen Klängen von Dudelsäcken betraten sie einen grasbewachsenen Innenhof, der von hohen, alten Bäumen überschattet und hohen, alten Gebäuden umgeben war. Alice lief ein Schauer über den Rücken. Das habe ich schon einmal erlebt . Die Prozession führte sie zu einer Reihe von Stühlen, wo sie Platz nahmen.
    »Das ist die Harvard-Abschlussfeier«, sagte Alice.
    »Ja«, sagte John.
    »Das Commencement.«
    »Ja.«
    Nach einer Weile begannen die Ansprachen. Bei den Harvard-Abschlussfeiern waren schon viele berühmte und einflussreiche Persönlichkeiten aufgetreten, hauptsächlich führende Politiker.
    »Der König von Spanien hat hier einmal gesprochen«, sagte Alice.
    »Ja«, sagte John. Er lachte ein wenig, offenbar amüsiert.
    »Wer ist denn dieser Mann?«, fragte Alice und meinte den Mann auf dem Podium.
    »Das ist ein Schauspieler«, sagte John.
    Jetzt war es Alice,
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