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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern
Autoren: Lisa Genova
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Neuigkeiten. Sie entschuldigte sich bei Cathy, dass sie sie beunruhigt hatte, und bat sie, alle wissen zu lassen, dass es ihr gut ging.
    Aber tatsächlich ging es ihr alles andere als gut. Kürzere Texte konnte sie noch immer lesen und verstehen, aber die Computertastatur war zu einem Wirrwarr aus Buchstaben geworden, der nicht zu entziffern war. Sie hatte die Fähigkeit verloren, aus den Buchstaben des Alphabets auf ihrer Tastatur Wörter zu bilden. Ihre Fähigkeit, die Sprache zu gebrauchen, genau das, was die Menschen am meisten von den Tieren unterschied, ließ sie immer mehr im Stich, und sie fühlte sich immer weniger menschlich, je mehr sie von dieser Fähigkeiteinbüßte. »Gut« war ein Zustand, von dem sie sich schon vor einer ganzen Weile unter Tränen verabschiedet hatte.
    Sie klickte ihr Posteingangsfach an. Dreiundsiebzig neue E-Mails. Überwältigt und außerstande, darauf zu reagieren, schloss sie ihren E-Mail-Account, ohne irgendetwas zu öffnen. Sie starrte den Bildschirm an, vor dem sie einen Großteil ihres Berufslebens verbracht hatte. Drei Ordner waren in einer senkrechten Reihe auf dem Desktop angeordnet: Festplatte, Alice, Schmetterling. Sie klickte den Alice-Ordner an.
    Darin befanden sich weitere Ordner mit unterschiedlichen Titeln: Abstracts, Verwaltung, Kurse, Konferenzen, Diagramme, Fördermittel-Anträge, Zuhause, John, Kinder, Lunch-Seminare, Vom Molekül zum Verstand, Aufsätze, Präsentationen, Studenten. Ihr ganzes Leben, in ordentlichen kleinen Icons organisiert. Sie konnte es nicht ertragen, einen Blick hineinzuwerfen, voller Angst, sie würde sich an ihr ganzes Leben nicht mehr erinnern oder es nicht mehr verstehen. Stattdessen klickte sie Schmetterling an.
    Liebe Alice,
    du hast diesen Brief an dich selbst geschrieben, als du bei klarem Verstand warst. Wenn du das hier liest und nicht imstande bist, eine oder mehrere der folgenden Fragen zu beantworten, dann bist du nicht mehr bei klarem Verstand:
     
    Welchen Monat haben wir?
    Wo wohnst du?
    Wo ist dein Büro?
    Wann ist Annas Geburtstag?
    Wie viele Kinder hast du?
     
    Du hast die Alzheimer-Krankheit. Du hast zu viel von dir selbst verloren, zu viel von dem, was du liebst, und du lebst nicht mehr das Leben, das du leben willst. Diese Krankheit kann kein gutesEnde nehmen, aber du hast dich für ein Ende entschieden, das für dich und deine Familie so würdevoll, fair und respektvoll wie möglich ist. Du kannst deinem eigenen Urteilsvermögen nicht mehr trauen, aber du kannst mir trauen, deinem früheren Selbst, das zu dir spricht aus der Zeit, bevor die Alzheimer-Krankheit dir zu viel von dir geraubt hat.
     
    Du hast ein außergewöhnliches und lohnenswertes Leben gelebt. Du und dein Mann John, ihr habt drei gesunde und wundervolle Kinder, die alle geliebt werden und erfolgreich ihren Weg machen, und du hattest eine bemerkenswerte Karriere in Harvard voller Herausforderungen, Kreativität, Leidenschaft und Leistungen.
     
    Dieser letzte Teil deines Lebens, der Teil mit Alzheimer, und dieses Ende, das du dir sorgfältig überlegt hast, sind tragisch, aber dein Leben war nicht tragisch. Ich liebe dich, und ich bin stolz auf dich, darauf, wie du gelebt hast, und auf all das, was du getan hast, solange du es konntest.
     
    Geh jetzt in dein Schlafzimmer. Geh zu dem schwarzen Tisch neben dem Bett, dem mit der blauen Lampe darauf. Öffne die Schublade
dieses Tischs. Ganz hinten in der Schublade ist ein Fläschchen mit Pillen. Das Fläschchen hat ein weißes Etikett, auf dem in schwarzen Buchstaben
FÜR ALICE steht. In diesem Fläschchen sind viele Pillen. Nimm sie alle auf einmal mit einem großen Glas Wasser. Sorg dafür, dass du sie alle
schluckst. Und dann leg dich ins Bett und schlaf ein.
     
    Geh jetzt, bevor du es vergisst. Und sag niemandem, was du tust. Bitte vertrau mir.
     
    Alles Liebe,
    Alice Howland
    Sie las es sich noch einmal durch. Sie konnte sich nicht erinnern, es geschrieben zu haben. Sie wusste auf keine der Fragen die Antwort, bis auf die eine, die lautete, wie viele Kinder sie hatte. Aber das wusste sie vermutlich nur, da sie sich die Antwort in dem Brief selbst gegeben hatte. Ihre Namen wusste sie nicht mit Sicherheit. Anna und Charlie vielleicht. An den dritten konnte sie sich nicht mehr erinnern.
    Sie las sich den Brief noch einmal durch, diesmal langsamer, falls das überhaupt noch möglich war. Auf einem Computerbildschirm zu lesen fiel ihr schwer, schwerer als auf Papier, wo sie einen Stift und einen
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