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Cäsar Birotteau (German Edition)

Cäsar Birotteau (German Edition)

Titel: Cäsar Birotteau (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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Cäsar Birotteau
    Während der Winternächte wird es in der Rue Saint-Honoré nur auf Augenblicke ruhig. Den Lärm, den die aus dem Theater oder vom Balle zurückrollenden Kutschen verursachen, setzen die Wagen der Gemüsehändler fort, die nach der Markthalle fahren. Mitten in diesem Orgelgebraus, das in der gewaltigen Symphonie des Pariser Straßenlebens gegen ein Uhr morgens ertönt, fuhr die Ehefrau des Parfümhändlers Cäsar Birotteau – er wohnte in der Nähe der Place Vendôme – aus dem Schlafe auf. Ein fürchterlicher Traum hatte sie erschreckt.
    Frau Konstanze Birotteau hatte eine Doppelgängerin von sich gesehen: in zerlumpter Kleidung, einen Stock in der harten, schwieligen Hand, stand sie auf der Schwelle ihres eigenen Ladens; zugleich aber saß sie auch in dem Schreibsessel ihres Kontors. Sie bat sich selbst um ein Almosen und hörte sich zugleich an der Tür und im Kontor reden. Als sie nach ihrem Manne, dessen Lager neben dem ihren war, greifen wollte, fanden ihre Hände seinen Platz leer. Da vermehrte sich ihre Angst dermaßen, daß sie ihren Kopf nicht zu bewegen vermochte. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt, sie konnte keinen Laut von sich geben, sie riß die Augen weit auf, es sauste ihr in den Ohren, ihr Herz schlug heftig. In Schweiß gebadet richtete sie sich endlich entsetzt im Bette auf. Das Ehepaar schlief in einem Alkoven, dessen Flügeltür weit offen stand.
    Die Furcht ist ein halb krankhaftes Gefühl, das, wenn es in die menschliche Maschinerie eingreift, deren Kräfte plötzlich entweder zu ihrer größten Leistungsfähigkeit treibt oder gänzlich versagen läßt. Die Physiologen haben lange Zeit vor dieser seltsamen Erscheinung verblüfft dagestanden, weil sie ihre Theorien umstürzt und ihre Folgerungen über den Haufen wirft. Indessen ist die Angst im Grunde nichts weiter als ein im Innern des Menschen niedergehender Blitzschlag, der, wie alle elektrischen Vorgänge, eigenwillig und unberechenbar ist. Diese Erklärung wird dereinst allgemein anerkannt werden, wenn die Gelehrten die ungeheure Wirkung erkannt haben, die die Elektrizität auf die Nerven und das Gehirn der Menschen ausübt.
    Frau Birotteau empfand in diesem Augenblicke jenen gewissermaßen lichtvollen Schmerz, der durch die starke Entladung des durch einen unerforschten mechanischen Vorgang zerstreuten oder konzentrierten Willens entsteht. Während eines kurzen, scheinbar aber nicht endenwollenden Zeitraumes hatte die arme Frau die wunderbare Macht, mehr Gedanken zu produzieren und sich mehr Erinnerungen zu vergegenwärtigen, als ihr das im gewöhnlichen Zustande innerhalb eines ganzen Tages möglich gewesen wäre. Das Gesamtergebnis dieses Vorgangs äußerte sich in einigen wirren, sich widersprechenden sinnlosen Worten.
    Birotteau hat doch nicht ohne Grund das Bett verlassen! Vielleicht ist ihm das Essen schlecht bekommen. Aber wenn er krank wäre, hätte er mich doch geweckt. In den neunzehn Jahren, die wir nebeneinander schlafen, hat er kein einziges Mal seinen Platz verlassen, ohne es mir vorher zu sagen. Der liebe treue Kerl! Wenn er mal aufgestanden ist, so geschah es nur, um nach einem gewissen Örtchen zu pilgern! Ist er denn überhaupt gestern mit mir zu Bett gegangen? Freilich! Du lieber Gott! Ich bin wie vor den Kopf geschlagen!
    Sie übersah das Bett und erblickte die Nachtmütze ihres Mannes, die noch die fast kegelförmige Form seines Kopfes zeigte.
    Sollte er Selbstmord begangen haben? Aber warum? Seit den zwei Jahren, die er Stadtverordneter ist, kommt er mir wie verdreht vor. Man sollte so einem Manne weiß Gott kein öffentliches Amt geben! Sein Geschäft geht vorzüglich. Er hat mir erst neulich einen teuren Schal geschenkt. Vielleicht geht es aber doch schlecht? I wo! Da müßte ich's doch wissen! Aber weiß man denn immer, was ein Mann im Kopfe hat! Unsinn! Haben wir doch heute für fünftausend Francs Umsatz gehabt. Übrigens kann ein Stadtverordneter überhaupt nicht Selbstmord begehen. Er ist viel zu sehr auf die Ordnung im Staate bedacht. Aber wo mag er nur stecken?
    Sie war nicht imstande, ihre Hand nach der Klingelschnur auszustrecken, womit sie die Köchin, drei Kommis und den Lehrling in Bewegung gesetzt hätte. Obwohl sie völlig wach war, drückte sie der Alp. Es kam ihr nicht einmal in den Sinn, daß ihre Tochter im anstoßenden Zimmer schlief.
    Sie bildete sich ein, laut »Mann!« gerufen zu haben, aber sie vernahm natürlich keine Antwort.
    Sollte er eine Geliebte haben? dachte sie
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