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Mein Jakobsweg

Mein Jakobsweg

Titel: Mein Jakobsweg
Autoren: Elke Sauer
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hätte er sagen können, aus dem vorigen Jahrhundert. Das glaube ich ja gar nicht! Gerade in diesem und im letzten Jahr hat sich so viel auf der Strecke verändert, ich wette, du hast nur die Hälfte der Herbergen drin.
    Das kann wohl sein, antworte ich ihm. Damals schon wollte ich durch Spanien pilgern, aber dann bin ich krank geworden. Und das Buch hat mir geholfen, mein Ziel niemals aus den Augen zu verlieren. Es war mein Halt über viele Jahre. Da konnte ich es doch jetzt, wo ich wieder gesund bin, nicht so einfach zurücklassen.
    Nun, meint er, er könne mich wohl verstehen, aber dann hätte ich eben noch ein zweites, aktuelles Buch mitnehmen müssen.
    Erst mal gibt es wieder viele Steine, rechts und links und auch auf dem Weg. Später, auf einer kleinen Landstraße, erreiche ich das schon lange nicht mehr bewohnte Kloster San Antón.
    Die Straße führt mitten hindurch; links steht wieder der Reisebus, im Moment sind sie noch mit diesem Teil des Klosters beschäftigt. Auf der rechten Seite erkenne ich das inzwischen zugemauerte Fenster, durch welches die Mönche den Pilgern - den Aussätzigen, die überall ihre besonderen Lagerstätten hatten - das Essen reichten. Jetzt legen die Pilger der Neuzeit in die Fensternische kleine Bittzettel hinein. Damit sie nicht verloren gehen, beschwert man sie mit einem kleinen Steinchen. Manchmal wird auf den kleinen Briefchen auch nur jemand gegrüßt, der wohl hier noch vorbeikommen wird.
    Bei diesem Anblick muss ich an meinen Michael denken, an sein viel zu kurzes Leben voller Leid.
    Ich reiße einen Zettel von meinem Block und schreibe: Michael, mein Sohn, wie geht es Dir da oben? Bist Du jetzt glücklich? Wir sehen uns bestimmt bald wieder, Deine Mama.
    Als ich diese Zeilen unter einen kleinen Stein vor dem Pilgerfenster des Klosters San Antón lege, ist mir Michael so nahe wie lange nicht mehr.
    Ich blicke hinauf in das Himmelsgewölbe und möchte diesen Augenblick festhalten. Ihn noch ein klein wenig länger bei mir haben.
     

Gedenken an meinen verlorenen Sohn
     
    Ich erinnere mich an unsere allerletzte Begegnung. Mama, ich bin’s, rief er mir damals freudig entgegen, übersprang die Treppenstufen und war in Windeseile bei mir. Wir umarmten uns, und für Sekunden fühlte ich mich schwerelos. Er ist da! Ich kann ihn berühren! Mein Herz drohte vor Freude zu zerspringen. Nun saß er in meinem Sessel und ich dicht daneben. Ich wollte ihn gar nicht mehr loslassen.
    Es war schon spät am Abend; ich kochte Tee, weil ich dachte, er braucht etwas zu trinken. Den Tee kühlte ich, indem ich ihn von einer Tasse in die andere gab, bis er kalt genug war. Dann gab ich Zucker dazu. Schließlich reichte ich ihm eine Tasse mit den Worten: Michael, jetzt kannst du ihn trinken. Unbewusst hatte ich damit ein Ritual aus seiner Kindheit wiederholt. Erst als mir das auffiel, nahm ich die völlige Stille wahr, die während dieser Handlung zwischen uns geherrscht hatte.
    Michael, weißt du noch, wie es früher war, fragte Peter ihn. Denkst du noch an unsere Fußballspiele, an die Sommer am Baggersee und an unsere Urlaube? Damals glaubte ich, wir wären eine glückliche Familie.
    Ja, Papa, das waren wir auch, und glaub mir, ich hab nichts vergessen. Ich kann mich noch an alles erinnern. Ihr seid nicht schuld, ich hatte eine schöne Kindheit. Aber, Papa, ich habe schon immer anders gedacht als ihr. Ich lebe auf der Straße, das ist meine Welt. Ich kann nicht anders.
    Wie kann ein Mensch gerne auf der Straße leben wollen? Niemals im Leben werde ich das verstehen!
    Vor wenigen Tagen erst war unser Sohn mal wieder aus einer Therapie abgehauen, im Anschluss an eine Haftstrafe. Zwei Wochen später hätten wir ihn dort besuchen dürfen.
    Mama, du kennst mich doch, sagte er, um sich zu verteidigen, diese Therapien halte ich nicht aus, da gehe ich lieber in den Knast. Und er brauchte Geld, das war ja nichts Neues. Er könne eine Wohnung mieten, aber ihm fehle das Geld für die Kaution und die erste Miete.
    Nun war es an mir, ihm zu sagen, was ich ihm längst hätte schreiben müssen.
    Michael, begann ich vorsichtig, wir können uns den Luxus, dir Geld zu geben, nicht mehr erlauben. Versteh das bitte, ich bin krank, sehr krank.
    Nein, Mama, nicht du! Entsetzt sah er zu seinem Vater. Papa, ist das wahr?
    Ja, Kind, schon lange.
    Ein Weinkrampf schüttelte Michael. Er brauchte lange, um sich einigermaßen zu beruhigen.
    Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, sagte Peter dann, hätte ich Geld von der
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