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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck
Autoren: Werner Spies
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seinen Impressions d’Afrique ( Eindrücke aus Afrika ) herangezogen hat. Aus diesem Grund sprach denn auch Leiris, auf Roussel bezogen, von einem »magischen Nominalismus«. Die Begegnung mit ihm hat Michel Leiris ebenso verwirrt und in seiner Arbeit bestätigt wie Max Ernst, der ungefähr gleichzeitig, gegen 1926 , seine Bekanntschaft machte. Es war die Zeit, in der er Frottagen zur »Histoire Naturelle« und Collagen in der Galerie van Leer zeigte.
    Max Ernst erzählte mir später von der unerwarteten Begegnung. Roussel hielt ihn für einen Angestellten der Galerie und wollte von ihm wissen, ob der Künstler nicht bestimmte, offensichtlich geheimgehaltene Prozeduren verwende, um in seinen Arbeiten verschiedene, verdeckte Inhalte sich überlagern zu lassen. Die Antwort, die er gab, hat Max Ernst in seinen autobiographischen Notizen festgehalten: »Ja, und der Maler macht daraus kein ›Geheimnis‹. Er erklärte ihm mit Freuden das ›Verfahren‹ des Malers. Dann wandte sich der ›Käufer‹ an die Sekretärin, erstand ›die chinesische Nachtigall‹, hinterließ Namen und Adresse und verschwand.« Dass der Schriftsteller ausgerechnet diese Collage ausgesucht hatte, ist spannend. Wir müssen wissen, dass es sich dabei nicht um das Original handeln konnte. Dieses gehörte bereits damals Tristan Tzara, der alles, was er von Max Ernst finden konnte, für die Publikation seines »Dadaglobe« sammelte. Es handelte sich um eine fotografische Vergrößerung nach der aus fotografischen Details zusammengesetzten Collage. Die Verblüffung durch die Verschleierung, die die unbekannte Prozedur ihm vor die Augen führte, musste Roussel zu seinen Fragen aufgefordert haben. Die Fotografie nach einer Fotografie gibt Max Ernst die Möglichkeit, das Resultat mit dem Anspruch auf absolute Glaubwürdigkeit zu präsentieren. Da Fotografie damals noch weitgehend den Begriff der Fiktion und Manipulation ausschloss, wird eine Collage, die mit Elementen operiert, die in keiner Beziehung zueinander stehen, zu einem besonders irritierenden Gebilde. Das Neue an den Collagen und an den Frottagen war, dass der Künstler eine graphische Syntax erfunden hatte, die die Offenheit von Texturen und Strukturen in Bilder der Verwirrung verwandelte. Roussel lädt ein, hinter der undurchschaubaren Zufälligkeit seiner Assoziationen eine mehrstöckige Flucht aus zementierten Bedeutungen zu ergreifen. Dazu dienen ihm homonyme Wörter. Bei Max Ernst kann der Betrachter entsprechend von homonymen Bildern sprechen, die stufenweise verschiedene Bedeutungen preisgeben.
    Michel Foucault hat den Ausgangspunkt, der auch für Leiris gelten kann, folgendermaßen beschrieben: »Die Identität von Wörtern – der einfache, fundamentale Tatbestand der Sprache, dass es weniger Buchstaben gibt, die bezeichnen, als Dinge, die es zu bezeichnen gibt – führt selbst zu einer zweischneidigen Erfahrung: Sie macht das Wort zum Ort einer unvorhergesehenen Begegnung zwischen den entferntesten Erscheinungen der Welt.« Dieser Aufruf kann sich nicht zuletzt auf den Hinweis Wilhelm von Humboldts beziehen, der davon spricht, dass die Sprache von »endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen muss«. Im Text Glossaire j’y serre mes gloses ( Glossar ), der in mehreren Folgen ab 1925 in La Révolution surréaliste erscheint, lehnt Leiris die erste, gewöhnliche Bedeutung, die ein Wort anbietet, ab und demonstriert, wie sehr das Misstrauen gegen die Sprache berauschen kann. Dort, wo die Wörter entgleisen und sich in ihrer Fremdheit verfahren, entstehen die Unsicherheiten und Unregelmäßigkeiten, die die Bilder und Texte des Surrealismus so unnachahmlich machen. Leiris hat ein genaues Gespür dafür, wie viele Wörter und Sätze wie übertünchte Gräber im Leben stehen.
    Dieses Gefühl des Prekären erschien mir als die wichtigste Lehre, mit der ich nach meiner Ankunft in Paris zu tun hatte. Denn hier, beim Wechsel der Sprache, spürte ich erstmals, wie fraglich all die Sätze waren, mit denen wir in der Familie und in der Schule ausgestattet worden waren. Immer tauchte der Argwohn gegen die fertige und sichere Sprache auf. Der Glaube, dass diese geschaffen sei, um den Beziehungen zwischen den Menschen zu dienen oder diese gar zu vereinfachen, erschien als bequeme Aberration. Das hatte sicherlich damit zu tun, dass auf dem Weg ins Französische die Muttersprache wenn nicht relativiert, so doch zu sich selbst in Distanz gesetzt wurde. Selbstverständlich blieb ich immer
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