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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck
Autoren: Werner Spies
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wieder zwischen dem deutschen und dem französischen Wort hängen. Das machte mir richtig Spaß. Es war spannend zu erfahren, wie sich das eine näherte und das andere entfernte. Dies betraf schon die Sonorität. Die ließ sich manipulieren, denn die Wiederholung des eigenen, scheinbar selbstverständlichen Wortes sorgte dafür, dass es sich plötzlich selbst fremd gegenüberstand. Es war mir, als hätte ich dafür zu sorgen, dass sich das auf diese Weise von sich selbst entleerte Wort wieder mit sich bekanntmachen müsste. Gewiss, das Maß der Unsicherheit, die ich im Zusammensein mit Michel Leiris und seiner Umgebung kennenlernte, wurde mir erst nach und nach bewusst. Doch sie erklärte mein nachlassendes und schließlich fast völlig geschwundenes Interesse an schnurstrackser Literatur.
    Sicher, dieser Degout war in den späten fünfziger und sechziger Jahren nicht gerade originell. Dank seiner Texte, nicht zuletzt denen, die er in Documents veröffentlicht hatte, betrat ich eine fremde, häufig infernalische Welt. Nehme ich nur »Le ›Caput mortuum‹ ou la femme de l’alchimiste«, mit der Abbildung der Ledermaske, die sich W.B. Seabrook schneidern ließ. Dies alles sollte mich später zur höchsten visuellen Literatur führen, die es geben konnte, den Collageromanen von Max Ernst. Aber ich kann behaupten, dass ich die Lustlosigkeit und Langeweile gegenüber dem gläubigen, rechthaberischen Erzählen damals bereits unabhängig von Vorlagen zu entdecken begann – vielleicht weil ich mich an der Narration übergegessen hatte. Ich spürte eine Art von Widerwillen, der mich von dem entfernte, was mir aus den Büchern von Böll, Grass und Walser vertraut war, und ich sehnte mich nach Seiten mit weißen Stellen, nach weißgebluteten Texten. Allenfalls ironische Geschichten, Geschichten, die nicht aufgingen, die Simulation von Dramatik behagten mir.
    Leiris und der Nouveau Roman boten sich als Fluchtweg an. Das Neue, das ich erfuhr, verwirrte mich und schlug dem Wort ins Gesicht. In Erinnerung geblieben sind mir die ersten Seiten eines Textes von Jean Thibaudeau, den ich in meinen frühen Pariser Jahren übersetzte. Er führte mich in ein anderes Land. Die Zeichnung einer Blume beginnt mit den Sätzen: »Ein weißes Blatt. Der Schatten der Hand, des Bleistifts liegen bewegungslos auf ihm. Die Hand hat sich vom Blatt entfernt, in dem zögernden Zurückfliegen eines Raubvogels, der Bewegung musterhaften Auflauerns, das nicht heimlich, sondern offen, einschläfernd und gnadenlos geschieht …« Es geht um pulverisierte Zeit, der es nicht mehr gelingen will, die Vorstellung von einer verfolgbaren erzählerischen Kausalität auszuhalten. Auf Thibaudeau war ich durch den Roman La Cérémonie royale aufmerksam geworden. Ich besuchte ihn in Paris in der Rue de Belleville, und bald übergab er mir für den Süddeutschen Rundfunk das Hörspiel »Die Fußballreportage«. Ich fand die Einblendung von Großaufnahme und Kleinaufnahme, von Öffentlichem und Privatem in das Fußballspiel fabelhaft. Thibaudeau geht von den Möglichkeiten des Funks aus, demonstriert die Allgegenwärtigkeit der Reporter, die überall im Land zugegen waren und eine akustische Einheitsfront gegenüber dem Hörer bilden. Das Stück spielt in der Realzeit der beiden Halbzeiten und zeigt auf spannende Weise, was in jenem Moment im Land, jenseits des Spiels, passierte. Aus der Disproportion zwischen Länderkampf und Spaziergang, Radrennen und Autozusammenstoß ist eine Collage entstanden, deren Wirkung sich niemand entziehen konnte. Und dahinter steckt die Unerbittlichkeit der beiden Halbzeiten, die alle zeitgleichen privaten Ereignisse wie Treibgut mitreißt und relativiert. Thibaudeau war verständlicherweise perplex und amüsiert, dass die deutsche Fassung vom französischen Text in einem entscheidenden Punkt abwich: Bei dem Spiel Deutschland-Frankreich siegten im Hörspiel die Franzosen. Die deutsche Bearbeitung stellte dies auf den Kopf: Deutschland musste gewinnen. Ein reziproker Fanatismus war nicht denkbar.
    Ich merkte, dass ich schnell und unwiderruflich viel an Erinnerung und an Gewissheit aufgegeben hatte und kaum mehr etwas davon zurückholen wollte oder zurückholen konnte. Denn wer Anfang der sechziger Jahre nach Paris zog, wurde unweigerlich in eine Stimmung hineingerissen, die sich aus der Rückschau als Entdeckung von Unstimmigkeit beschreiben lassen könnte. Nouveau Roman, Nouvelle Vague sorgten dafür, dass sich das Gewohnheitsmäßige in
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