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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck
Autoren: Werner Spies
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mich übereinander. Das eben ist das Ungeheure und Dramatische bei Stifter, seine scheinbare Weltfremdheit zieht wie ein Schwamm all das an, was wir von Welt wissen können und wissen wollen. Es war mir, als ob sich das Gelesene nach und nach vom Leser fortbewege. Und allein die getäuschte Vertrautheit bringt die Distanz zustande, die das vergebliche Werben um den Text zurückstrahlt. Das Wiederlesen will ihn abrichten, so wie Viktor den kleinen Hund abzurichten sucht, den er auf die Insel mitbringt und den der misanthropische Oheim zunächst am liebsten ertränken lassen möchte.
    Die Sehnsucht, das Warten auf Stifter, gehörte zum Gepäck, das ich nach Paris mitnahm. Und ich konnte im Wintersemester 1959/1960 an der Sorbonne eine Vorlesung bei Claude David hören, der sich wohl als einziger Germanist in Frankreich für einen Schriftsteller einsetzte, der sonst allenfalls als Exponent des Biedermeiers eine höfliche Erwähnung fand. Mir kam diese polsterartige Rezeption widerlich vor – war Stifters grauenhafter blutiger Selbstmord mit dem Rasiermesser auch Biedermeier? Gab es eine gespanntere und unglücklichere Prosa als die von Stifter? Niemand passte in meinen Augen besser zu Flaubert als er. Ein Franzose spielte damals für eine aktuelle, akute Rezeption eine wichtige Rolle, Henri Thomas. Ich lernte den Autor von Le Promontoire in den frühen sechziger Jahren in Paris durch Elmar Tophoven und auch Paul Celan kennen. In unseren Gesprächen kam Stifter immer wieder vor. Darauf, auf die gemeinsame Passion, bezog sich auch ein Wort, das mir Thomas damals sandte, der Hinweis auf die »franche amitié«, die uns nun verbinde. Und in ein Exemplar von Le Promontoire notierte er die Widmung »cette obscure histoire sous les étoiles invisibles«. Für mich war es spannend mitzuerleben, dass sich ein Autor wie Henri Thomas für die Sprache Stifters einsetzte, die ich in ihrem Verzicht auf Dramatik meinerseits nun in die Nähe des Nouveau Roman zu rücken begann. Celan hatte sich sofort nach Erscheinen von Le Promontoire an die Übersetzung des Romans von Thomas gemacht, diese jedoch wieder fallenlassen. Das Buch erschien dann in einer Übertragung von Elmar Tophoven unter dem Titel Das Kap . Darüber schrieb ich eine meiner frühesten Rezensionen. Bei Gallimard war Henri Thomas als Lektor zuständig für deutschsprachige Literatur. Er hatte bereits 1943 Stifters Hochwald übersetzt. Doch es dauerte noch lange Zeit, bis die eine oder andere Übertragung ins Französische die unheimliche Seite dieser Stille offenzulegen vermochte. Es gehört nun einmal zu den Folgen des neunzehnten Jahrhunderts, des französisch-preußischen Kriegs, dass die bedeutende deutschsprachige Literatur aus dieser Zeit, die Werke von Keller, Stifter oder Fontane, weitgehend ausgeblendet geblieben ist. In allen Büchern, die ich liebe – und dazu gehört nun einmal L’âge d’homme –, scheinen das Gefühl und das Auge plötzlich zu stocken. Das konnte ich ohne weiteres auf meine Passion für Kafka und Stifter beziehen. Auf diesen Seiten tauchen beim ersten Lesen Sätze auf, die so unendlich deutlich sind, dass sie überhaupt nicht über sich selbst hinausweisen müssen.
    Solche Erfahrungen, dass eine genau verwendete Sprache, eine Sprache, die trifft, letztlich verunsichert, konnte ich nach meiner Ankunft in Paris ständig machen. Und dies blieb mit Abstand lange die folgenreichste Entdeckung. Sie ließ sich auf Bilder und Texte gleichermaßen beziehen. Nur sie brachte es fertig, dass ich bei Nathalie Sarraute, Pinget, Beckett, Claude Simon, Robbe-Grillet, Butor, Marguerite Duras oder Jean Vauthier nicht nur in ihrer Stimmung überaus verschiedene Texte kennenlernte, sondern innerhalb der Fremdsprache, in die ich mich hineinzuarbeiten begann, immer neue Fremdheiten entdecken konnte. Denn beim Lesen, im Gespräch oder im Theater wurden Dialoge und Texte durch eine Verwirrung ergänzt, die auf den Zwang zurückging, sich Hals über Kopf in die ungewohnte Sprache fallenzulassen. Dabei hatte ich das Glück, sofort mit Menschen zu verkehren, die ihr Französisch auf eine unverwechselbare Weise beherrschten und den disziplinierenden Umgang mit Sprache auch in der mündlichen Diktion und im sozialen Verhalten bewahrten.
    Das Zusammensein mit Eugène Ionesco lieferte ein gutes Beispiel dafür, wie jemand aus einer gespielten Infirmität, aus Sprachzögern, Kapital zu schlagen vermochte. Er hatte wie Conrad, Nabokov oder Beckett für ein sprachliches
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