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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck
Autoren: Werner Spies
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Erleben ankommt als auf die Fähigkeit, das Erlebte überhaupt wahrzunehmen. Obaldia hatte mir unter anderem 1967 das Hörspiel » Urbi et orbi« übergeben. Zu jener Zeit, da sein Theaterstück Du vent dans les branches de Sassafras ( Wind in den Zweigen des Sassafras ) uraufgeführt wurde, kam es zu unvergesslichen Treffen. Zusammen mit Michel Simon, der John-Emery Rockefeller spielte, und der provozierenden, rothaarigen Rita Renoir, der legendären Stripperin aus dem »Crazy Horse«, fuhren wir im Februar 1965 ins Théâtre de la Poche nach Brüssel. Das Stück wurde anschließend im Pariser Théâtre Gramont nicht zuletzt wegen der Teilnahme Michel Simons und Rita Renoirs in der Rolle als »Myriam – putain au grand cœur« zum Triumph. Sicher, immer wieder vergaß Michel Simon Partien seines Textes, und eines Tages kam er mit lädiertem, verbundenem Kopf. Sein Papagei hatte ihn gebissen. Denn tagelang hatten beide eine Fehde, und als Simon schließlich dem Vogel die Versöhnung anbot und sich ihm näherte, büßte er dies mit einer blutigen Nase.
    Was Ionesco, Jean Tardieu, Robbe-Grillet oder Nathalie Sarraute schrieben, richtete sich nicht zuletzt gegen den Existentialismus, der eigentlich nichts anderes war als ein rationaler Versuch, den Ekel durch eine aufgeheiterte oder räsonable Verzweiflung zu bändigen. In seinem Umkreis, vor allem in der humanistischen Verkleidung, die Camus popularisiert hatte, ging es um Lebenshilfe. Doch so etwas wie eine Anleitung zum Leben hatte der Surrealismus nie gesucht und nie versprochen. Das war auch das, was Samuel Beckett Sartre mit einiger Skepsis vorwarf. Als wir über diese Zeit sprachen, meinte er: »Ich glaube, dass die Konzeption des Absurden larmoyant ist. Ich habe nie diese Vorstellung des Absurden akzeptiert, weil sie ein Urteil enthält.« Und er fügte hinzu: »Das konnte ich nie. Es ist eine Rechnung. Auf der einen Seite das, was man einstecken kann, auf der anderen Seite das, was man nicht einstecken will. Man zählt zusammen und bringt heraus: Das ist absurd. Ich hoffe, dass es bei mir kein Urteil dieser Art gibt.« Im Übrigen meinte er einmal, diese Larmoyanz sei vom physischen Zustand abhängig.
    Bei Camus hatte dies, Beckett zufolge, mit seiner prekären Gesundheit zu tun. »Sobald es ihm besser ging, war nicht mehr die Rede vom Absurden, sondern von Sonne. Möglicherweise konnte er nicht hinnehmen, dass ein junger, schöner Mann wie er, der von Frauen umschwärmt war, sich nicht voll ins Leben stürzen konnte.« Auf die Fragen, die sich Wladimir und Estragon in Warten auf Godot stellen, verweist der Autor mit grausamem Mitleid: »Sie sprechen über ihre Leben. Es genügt ihnen nicht, gelebt zu haben.« Der französische Titel En attendant Godot enthält – so besehen in eine sprechende grammatikalische Form gebracht – Becketts einzigen Kommentar zur Aussage des Stücks. Es ist bemerkenswert, dass Beckett damit zu einer der wichtigsten grammatikalischen Formen der modernen französischen Literatur greift. Das Präsenspartizip dient nur noch wertfreien Feststellungen, es bezeichnet den Rückzug auf den definitiven Zustand des Wartens. Eine schärfere Umgehung der Sinnfrage hatte ich noch nie gehört. Nichts Präzeptorales klang hier an und keine Botschaft. Ich erkannte das, was der Autor mit einer einzigartigen, an Maeterlinck erinnernden Formulierung »Zwischenfälle von großem formalem Glanz und unbestimmbarem Inhalt« nennt.
    Einen vergleichbaren Dispens, über Wahrheit zu verfügen, spürte ich, als ich Max Ernst und Ionesco beim Besuch der ersten historischen Dada-Ausstellung im Musée d’Art Moderne in Paris begleiten durfte. Beide wollten nichts vermitteln, das war für mich die erstaunliche Botschaft. Ihr Gespräch wurde durch die Ablehnung, Dada in die Historie versetzen zu lassen, buchstäblich angefeuert. Das zeigte sich mit aller Deutlichkeit, als Marcel Janco zu uns stieß. Er hatte damals im Norden Israels das Künstlerdorf En Hod gegründet. Er rühmte, im Unterschied zu Max Ernst, mit Inbrunst das, was er einst zu Dada-Zürich beigetragen hatte. Dada war für Janco eine Art von vermittelbarer Lehre geworden, in deren Zentrum er den Konstruktivismus sah, an dem er von Anfang an festgehalten hatte. Es war keineswegs wie bei Hans Arp ein Spiel mit dem Konstruktivismus, der plötzlich ins Vegetabilische und Erotische umschlagen konnte, sondern es war eine weltanschaulich begründete Mathematisierung der Welt. Wie sehr Janco inzwischen
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