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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck
Autoren: Werner Spies
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der Schule eifrig damit beschäftigt waren, offensichtlich kompromittierende und nun gefährliche Schulbücher auszurangieren und diese in den Öfen der Heizungen und Waschküchen zu verbrennen oder in den Heften auf vielen Seiten ganze Textpassagen hinter schwarzer Farbe verschwinden zu lassen. Es war unheimlich, auf diese anschauliche Weise die Lüge, das Ende der Geschichte zu entdecken. Ich lebte inmitten von fieberhafter Auslöschung, die jeden Gedanken an Erinnerung, Dauer und mögliche eigene Zukunft aufgegeben hatte. Mit einem Schlag sollte die Vergangenheit getilgt werden. Auch das Nächste schien unerreichbar, lag in weiter Ferne. Wie abwesend vom eigenen Leben verbrachten wir die frühen Jahre. Mir kam es so vor, als würden das Leben und die Zukunft vom Blutsturz der Zeit weggerissen.

    Michel Leiris und Werner Spies

    Dieser Tage wurde mir dies ganz stark bewusst, als mich ein Freund, Henning Ritter, dem ich vertraue, dazu aufgefordert hat, den Gang in die Erinnerung als eine Geschichte in der ersten Person anzutreten. Ich war dem zuvor ausgewichen. Benjamins Wort, das mich dazu ermutigen sollte, »Das wahre Maß des Lebens ist die Erinnerung«, hatte mir immer Angst gemacht. Denn eine Reise zu sich, kann es die geben? Sie führt von einem selbst weg, steigert die Entfernung. Erneut spürte ich vehement, was mich davor zurückschrecken ließ. Das lag an all den anderen Menschen, die ich bewundern und von außen in ihrer Abgeschlossenheit und Sicherheit betrachten konnte. Nichts wollte sich dabei einfach in Glück auflösen. Ich fühlte mich dazu aufgefordert, bei dem, was mir begegnete, auf meine Person und meine Erfahrungen zu verzichten. Auf den folgenden Seiten stehen einige Skizzen, in denen es um Begegnungen, Ängste und Glücksgefühle geht. An vielen Stellen könnte ich ansetzen und die Erzählung meines Lebens weiterführen. Ich werde es wohl auch tun.
    Es schien mir für meinen Umgang mit dem Leben sicher das Beste, aus der Leere heraus zu schreiben. L’âge d’homme ( Mannesalter ) von Michel Leiris hat mich in diesem Zusammenhang stärker als jede andere Lektüre beschäftigt. Welch eine beeindruckende Lehre der Unsicherheit stand mir da vor Augen, welch ein Schriftsteller, der den Leser mit dem Lügendetektor verkabelt, an den er sich selbst ohne jede Furcht, ja mit Behagen angeschlossen hat. Nur Dünnhäutigkeit ist zu einer derartigen Selbstentblößung fähig. Was gibt es Irritierenderes und gleichzeitig Verlockenderes als solch tabulose Bekenntnisse, die von Augustinus, Rousseau bis zu diesem unbehaglichen Schriftsteller führen. Allein Nathalie Sarraute hat mir in unendlichen Gesprächen, die am Rande des schwindelerregenden Gefälles ihrer »sous-conversation« stattfanden, noch auf diese beispiellose Weise beigebracht, wie zersetzend Argwohn sei, aber auch was Argwohn vermöge. Der geradezu paranoische Grund dafür ließ sich auf die Frage zurückführen, die sie bereits als Kind unausgesetzt jedem Satz, jedem Gefühl entgegenstellte: »Warum müssen sie alle betrügen?«
    Es wird nie gelingen, die aufreibende Eifersucht loszuwerden, zu der eine solch hemmungslose Beichte und der Genuss des schlechten Gewissens zwingen können. Ich gewann den Eindruck, als ließen sich letztlich nur die eigenen Feigheiten, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben, als Gewinne des Lebens verbuchen. Es muss dabei beim Spiel mit dem Glück bleiben. An einer solchen Zweideutigkeit orientiert sich viel im Werk von Leiris. Überall treffen wir auf Sätze, an denen sich der Autor blutig kratzt. Der Titel L’âge d’homme spielt mit der Nähe, ja mit der Konfusion von »L’âge d’or«, Mannesalter scheint an etwas Nichterreichbares, Unwirkliches, scheint an »Goldenes Zeitalter« zu appellieren. Dahinter steht das Gefühl des bösen Glücks, mit dem Buñuels Film »L’âge d’or« eine ganze Generation für die Hinnahme und Abschilderung einer räsonablen und ungebrochenen Realität unfähig zu machen vermochte. Das Beispiel eines Schriftstellers, der mit einem scharfen Gefühl für die Erschütterungen der Sprache die irrwitzigen Verknüpfungen Raymond Roussels weitergeführt hat, zeigt dies. Ein unüberwindbares semantisches Gitter schützt dabei vor dem Einbruch einer endgültigen Erklärung. In dem posthum erschienenen Buch Comment j’ai écrit certains de mes livres (W ie ich einige meiner Bücher geschrieben habe ) erklärt Roussel die Chiffriermethode, die er zu den Schubladenwörtern in
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