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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck
Autoren: Werner Spies
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einem Dschungel von Indizien verirrte. Dazu gehörte für mich sofort »L’année dernière à Marienbad«, eine postsurrealistische Droge, der sich kaum jemand in Paris entziehen konnte. Schnell war die Kälte, die dieser Film verströmte, zu einer Art Bewusstseinsform geworden, die in manchen Kreisen auch das Vestimentäre betraf. Nichts zeigte dies besser als die Frage einer Dame, die im Theater von ihrem Partner wissen wollte, ob ihre weiße Stola nicht ziemlich »Marienbad« mache. Hier begegnete ich Werken, die ebenso neu und revolutionär wirkten wie die Bilder der Pollock, Newman und de Kooning, die sich inmitten eines totalen moralischen Zusammenbruchs auf eine Tabula rasa zurückziehen wollten. Die amerikanische Kunstszene hatte vollständig auf diese thematische Karenz gesetzt. Der Rückzug auf geschichtlich unbelastete Strukturen sollte dazu dienen, sich von den Passiva der europäischen korrupten Verwicklungen loszusagen. Es kam mir vor, als habe sich der Brustton von Überzeugung und gut gestopftem schlechtem Gewissen in diesen verstörenden Arbeiten von aller Rechthaberei und billigen Moral freigehustet. Ich verfolgte alles erstaunt und begeistert. Denn ich konnte nicht wissen, dass dieser Solipsismus dazu führte, nach und nach die Geschichte – die Freude und die Last an ihr – auszuradieren. Das, was in einem Prozess von Mutation zu Mutation geführt hatte, brach ab. An die Stelle traten Setzungen. Im Umkreis dessen, was sich um die Künstler und Intellektuellen während des Zweiten Weltkriegs im Asyl in den USA ereignete, zeigte sich dies, wie ich später sah, besonders deutlich. Die Behauptungen einer aufgewühlten New Yorker Schule, die mit einem Schlag das, was sie von den Emigranten übernommen hatte, loszuwerden suchte, ließen an die zahllosen Religionsgründungen im neunzehnten Jahrhundert denken, in denen Amerika das christliche Erbe den weiten Feldern der Mormonen, Amish People, Zeugen Jehovas, Adventisten und Pfingstler unterpflügte.
    Collage und Montage, als präzis kontrollierte Sprunghaftigkeit, begannen mich früh in ihren Bann zu ziehen. Das früheste Erlebnis verdankte ich Max Ernst. Ich erhielt zur Erstkommunion neben zwölf handgeschmiedeten Kerzenhaltern eine einbändige Kunstgeschichte von Hans Weigert. In diesem Band, der, auf festes glänzendes Papier gedruckt, die abendländische Architektur und Malerei bis in die jüngste Zeit, ins zwanzigste Jahrhundert, vorführte, stieß ich unter den verhältnismäßig wenigen Reproduktionen, die für das zwanzigste Jahrhundert reserviert waren, auf eine ganzseitige Tafel, die mich mehr als alles andere beschäftigte. Der Name, der darunterstand, konnte mir damals überhaupt nichts sagen. Es war eine Schwarz-Weiß-Abbildung aus der Frühzeit des Künstlers, »Die heilige Cäcilie«. Das Bild hängt inzwischen in der Staatsgalerie Stuttgart und gehört zu den ersten Verwirrungsbildern des Surrealismus. Stark beeindruckte mich, dass die eingemauerte Frau, wie es der Titel anzeigte, auf einem unsichtbaren Klavier spielte. Da gab es keine Klaviatur, die Hände griffen in die Leere. Außerdem waren die Augen der Figur verdeckt. Es war der Blick auf eine Blindheit, die sich, wie ich später von Max Ernst erfuhr, dem inneren Gesicht zuwendete. Ohne Näheres zu wissen oder über andere Informationen zu verfügen, merkte ich, dass in diesem Bild, das aus dem Jahr 1923 stammte, mehrere Botschaften gegeneinander ankämpften. Ein unverständlicher Bruch ging durch dieses Bild, erschütterte es. Es war eine Darstellung, die ihre Wirkung aus dem Recycling verschiedener Momente und verschiedener Informationen bezog. Und dieses Verfahren, das zu völlig disparatem Material greift, bringt einen Denk- und Assimilationsprozess in Gang, der dafür sorgt, dass sich die Fluchtpunkte unaufhörlich aufs neue verlagern.
    Immer wieder schien das Leben diese frühe, in rosarotem Feuerschein stehende Vision einzufangen. Denken wir daran, dass Max Ernst von den Franzosen in ein Internierungslager gesperrt wurde, in dem er monatelang in einem stillgelegten Feuerofen leben musste, der an dieses Gemäuer im Bild denken lässt, das sich auf eine Form aus einer Gießerei stützt. Die Assoziation an Auschwitz, Vernichtung, Verbrennung lässt sich nicht unterdrücken. Sicherlich spielte dabei vor dem Bild von früh auf noch ein anderes Erlebnis eine Rolle, etwas Gefährliches, Moralisches. Es klang etwas an, was ich später, obwohl es keinen ersichtlichen Grund dafür
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