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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman
Autoren: Heyne
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    Wenngleich Roland, der König, alt war - er selbst sprach von siebzig Jahren, aber er war ganz bestimmt älter -, so waren doch seine beiden Söhne noch jung. Er hatte erst spät geheiratet, weil er keine Frau gefunden hatte, die seinen Ansprüchen genügte, und weil seine Mutter, die große Königinwitwe von Delain, für Roland und alle anderen - einschließlich ihrer selbst - schier unsterblich zu sein schien. Sie hatte fast fünfzig Jahre lang über das Königreich geherrscht, als sie sich eines Tages ein Stück Zitrone in den Mund steckte, um einen lästigen Husten zu lindern, welcher sie schon seit mehr als einer Woche peinigte. Zu eben diesem Zeitpunkt führte ein Jongleur zur Erbauung der Königinwitwe und ihres Hofes seine Kunststücke vor. Er jonglierte mit fünf kunstvoll gefertigten Kristallkugeln. In dem Augenblick, als sich die Königin die Zitronenscheibe in den Mund schob, ließ der Jongleur eine der Glaskugeln fallen. Sie zerschellte mit lautem Geklirr auf dem Fliesenboden des großen östlichen Thronsaals. Die Königinwitwe erschrak über das laute Geräusch und sog Luft ein. Und dabei verschluckte sie sich an der Zitronenscheibe und erstickte im Handumdrehen. Vier Tage später fand Rolands Krönung auf dem Platz der Nadel statt. Der Jongleur konnte sie nicht mehr miterleben; er war drei Tage zuvor an der Hinrichtungsstätte hinter der Nadel geköpft worden.
    Ein König ohne Erben macht alle nervös, ganz besonders,
wenn dieser König schon fünfzig und bereits kahlköpfig ist. Daher lag es in Rolands Interesse, schnellstmöglich zu heiraten und schnellstmöglich einen Sohn zu zeugen. Sein engster Ratgeber Flagg führte ihm dies immer wieder vor Augen. Er wies ihn auch darauf hin, dass er mit fünfzig nur noch auf wenige Jahre hoffen durfte, in denen er ein Kind im Leibe einer Frau erschaffen konnte. Flagg riet ihm, bald eine Frau zu ehelichen und besser nicht auf eine Dame von edlem Geblüt zu warten, welche seinen Ansprüchen genügte. Wenn eine solche Dame nicht aufgetaucht war, bis ein Mann die fünfzig erreicht hatte, so würde sie wahrscheinlich niemals kommen, führte Flagg aus.
    Roland sah die Weisheit dessen ein und stimmte zu, ohne zu ahnen, dass Flagg mit seinem strähnigen Haar und dem weißen Gesicht, das fast immer unter einer Kapuze verborgen war, sein innerstes Geheimnis kannte: dass er nur deswegen nie eine Frau kennengelernt hatte, die seinen Ansprüchen genügte, weil er sich eigentlich aus keiner Frau etwas machte. Frauen machten ihm Angst. Und er hatte auch den Vorgang nie gemocht, der Babys in die Leiber von Frauen bringt. Auch dieser Akt machte ihm Angst.
    Aber er sah ein, wie klug der Rat des Hofzauberers war, und sechs Monate nach dem Begräbnis der Königinwitwe gab es im Königreich ein ungleich fröhlicheres Ereignis zu feiern - die Vermählung von König Roland mit Sasha, die die Mutter von Peter und Thomas werden sollte.
    Roland wurde in Delain weder geliebt noch gehasst. Sasha hingegen wurde von allen geliebt. Als sie bei der Geburt ihres zweiten Sohnes starb, legte sich auf das
Königreich tiefste Trauer, die ein Jahr und einen Tag dauerte. Sie war eine von sechs Frauen, die Flagg als mögliche Bräute des Königs vorgeschlagen hatte. Roland kannte keine dieser Frauen, die alle von ähnlicher Geburt und Stellung waren. Sie waren alle von adliger, aber keine von königlichem Geblüt; alle waren schüchtern und freundlich und still. Flagg schlug wohlweislich keine vor, die ihm seine Stellung als engster Vertrauter des Königs streitig machen konnte. Roland entschied sich für Sasha, weil sie die stillste und schüchternste des halben Dutzends zu sein schien und ihm wahrscheinlich am wenigsten Angst machen würde. Also heirateten sie. Sasha aus der Westlichen Baronie (wirklich einer sehr kleinen Baronie) war damals siebzehn Jahre alt, dreiunddreißig Jahre jünger als ihr Gemahl. Vor ihrer Hochzeitsnacht hatte sie noch niemals einen Mann ohne Hosen gesehen. Als sie in eben dieser Nacht seinen schlaffen Penis erblickte, fragte sie mit großem Interesse: »Was ist denn das, mein Gemahl?« Hätte sie etwas anderes gesagt, oder hätte sie es in einem etwas anderen Tonfall gesagt, so hätte die Nacht - und somit die ganze Geschichte - einen völlig anderen Verlauf nehmen können; trotz des speziellen Trunks, welchen Flagg ihm vor einer Stunde gegeben hatte, als das Hochzeitsfest sich dem Ende näherte, hätte Roland sich einfach davongemacht. Aber so sah er genau das in
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