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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder
Autoren: Tahmima Anam
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gestanden hatte, versteckte sich aus Angst vor den Kriegsheimkehrern, den Jungen, die ihre Waffen abgeliefert hatten, aber nicht aufhören konnten, an Rache zu denken. Die Frauen trugen Studentenblumen im Haar und dufteten nach Kokosöl, und die allmählich aus Indien in ihre Dörfer zurückkehrenden Flüchtlinge umklammerten die ausgebrannten Hülsen ihrer Hütten und setzten Pfähle auf leere Gräber.
    Es war ein Winter der Heimkehr. Mütter warteten zu Hause, bereiteten mit den gehorteten Kriegsrationen raffinierte Köstlichkeiten, blickten suchend auf die Straße und zuckten beim kleinsten Geräusch zusammen. Der Augenblick der Heimkehr spielte sich natürlich nie so ab wie in der Vorstellung, und der Sohn kehrte nicht in ein duftendes Haus zurück, in dem der Reis auf dem Tisch stand und alle frisch gewaschen und lächelnd auf ihn warteten. Nein, meistens geschah es, wenn die Mutter eine Hammelkeule auf dem Markt einkaufte oder nach zwei verlorengegangenen Wäscheklammern im Gras suchte; auf einmal war der Sohn da, zerlumpt, die Augen verschattet und mit gramvollem Gesicht, und wenn sie ihn sah, war es, als würde sie ihn noch einmal zur Welt bringen. Sie zählte noch einmal nach, ob wirklich alle Finger und Zehen dran waren, und fragte sich, wie er wohl in der neuen Welt zurechtkommen würde. Und der Soldatenjunge sagte nichts und genoß die kleinen Freuden: das Gefühl des fadenscheinigen Baumwollsaris seiner Mutter anden Fingern, den Druck ihrer Hand auf seiner Stirn und ihren Geruch nach Zitronen.
    Doch Sohail kam nicht zurück. Der Dezember verging, dann der Januar. Rehana und Maya sprachen von seiner Rückkehr, von all den schönen, hellen Dingen, die sie zusammen machen würden. Eiscreme und Frühlingshühnchen. Vielleicht würden sie einen Ausflug zu den Teeplantagen machen oder nach Cox’s Bazaar. Er hatte doch immer davon geträumt, mal die braunen Fluten des Golfs von Bengalen zu sehen.
    Als der Augenblick dann da war, arbeiteten Maya und Ammu beide als freiwillige Helferinnen im Rehabilitationszentrum für Frauen. Als sie am Abend nach Hause kamen, war Sohail schon da und saß gemütlich mit der Zeitung im Wohnzimmer, als sei er nie weggewesen.
    Er hatte ein rotes Hemd und einen dreckigen Lungi an. Unter den dunkelgrauen Bartstoppeln war sein Gesicht kaum zu erkennen. »Es tut mir leid«, sagte er und blickte zwischen den beiden hin und her. »Ich wollte mich eigentlich rasieren.« Sie lächelten sich an, und dann umarmte Maya ihn, so lang es nur ging, erstaunt über den Erdduft in seinen Haaren.

    An diesem Abend nahmen sie die Öllampe und setzten sich nach draußen auf die Veranda. Rehana stellte eine Moskitospirale unter Sohails Stuhl, und die drei rückten in der kühlen Februarluft eng zusammen.
    »Wo warst du denn so lange?« fragte Maya. »Die anderen Jungen sind schon seit Wochen wieder da.«
    Sohail gab keine Erklärung. Alle Worte schienen zu klein. Die Zikaden und die Frösche erhoben die Stimme. Maya dachte an frühere Zeiten, an denen sie so im Garten gesessen hatten. Im Winter hielten sie manchmal die Teller auf dem Schoß und sahen beim Frühstücken den sich auflösenden Nebelschwaden zu. Ihr Vater hatte den Garten und die Veranda gewollt. Zwei Monate vor seinem Tod hatte er eine Reihe Tomaten eingesät: sich selbst über die Erde gebeugt, Samenkörner in den Bodengesteckt und die Krumen über der Spalte geebnet. Noch bevor die Samen keimten, fiel er tot um, und als die Pflänzchen ihre grünen Spitzen zeigten, mußte Ammu sie gießen und die Krähen verscheuchen. Viele Jahre später, als der Garten verkleinert wurde, um dem großen Haus Platz zu machen, setzte Rehana ein oder zwei Tomatenpflanzen in das kleinere Gemüsebeet um, das sie vor dem Bungalow angelegt hatte. Aber sie überlebten das Umpflanzen nicht; die Stengel trockneten aus und zerfielen zu Staub. Einmal fand Maya ihre Mutter vor dem Beet, wo sie fassungslos das Skelett einer Tomatenpflanze in der Hand hielt.
    »Und was machen wir jetzt?« fragte Sohail.
    »Hat sie es dir denn noch gar nicht erzählt?« fragte Ammu. »Maya wird Ärztin. Damit sie sich um mich kümmern kann, wenn ich mal alt bin.«
    Maya errötete, weil sie insgeheim sehr stolz darauf war, daß sie sich für die Medizin entschieden hatte. Eine noble Art, dem neuen Land zu dienen. »Die Universität wird bald wiedereröffnet«, sagte sie.
    »Dann heißt’s also zurück zur Uni.« Der Gedanke, wieder Student zu sein und sich wie ein Schüler bevormunden
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