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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder
Autoren: Tahmima Anam
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heiße Luft nahm ihr den Atem.

    *

    Nach der Milad gingen die Frauen mit Terrinen voller Essen herum. Ammu spielte die Gastgeberin und forderte alle zumEssen auf. Jemand hielt Maya einen Teller hin, aber sie lehnte ab; die Zunge lag ihr wie Blei im Mund. Sie fühlte sich auf einmal unglaublich müde und überlegte, ob sie sich in Sohails Kinderzimmer zurückziehen und kurz hinlegen sollte. Es würde niemandem auffallen. Sie schloß die Augen und hörte Schritte um sich herum. Ihr Kopf fiel immer wieder zur Seite, und als sie die Augen wieder aufmachte, war das Zimmer leer.
    Sie fand Ammu in der Küche.
    »Ma?«
    »Ach, da bist du ja wieder. Ich wollte dich nicht wecken.«
    Maya hatte immer noch schrecklich schwere Lider, machte ein paar Schritte und schwankte. Ammu führte sie zurück zum Sofa. Sie wollte sich mit Ammu unterhalten, ihr von Nazia und dem Schlamm an ihrem Fenster erzählen. Und von den Peitschenhieben. Sie wollte ihr unbedingt von den Peitschenhieben erzählen. Aber daß Ammu sie angelächelt und zärtlich begrüßt hatte, machte all die Jahre noch lange nicht ungeschehen. Sie ließ sich aufs Sofa fallen und konnte die Augen kaum offenhalten. »Ich muß dir etwas erzählen.«
    »Wie bist du denn hergekommen?«
    »Erst Zug, dann Fähre, dann wieder Zug.«
    »Du mußt schrecklich müde sein. Leg dich doch ein bißchen hin.«
    Maya merkte, wie sie schon wieder eindöste. »Ich habe dir einen Baum mitgebracht.«
    »Ich wecke dich nachher wieder auf. Es ist erst drei.«
    Maya machte die Augen weit auf. Vor der Wand stand eine braune Kiste. Sie war bisher nicht zu sehen gewesen – die Frauen von oben hatten ein Tischtuch darübergebreitet. »Seit wann hast du das denn?« fragte Maya, rappelte sich auf und untersuchte das Ding.
    Ammus Gesicht hellte sich auf. »Ein kleines Geschenk für mich selbst.«
    »Ehrlich?«
    »Ich habe ganz lange gespart. Zwei Jahre lang, alles, was vonder Miete übrig war. Ein Deutscher wohnt jetzt bei uns im großen Haus, der zahlt seine Miete immer pünktlich. Hast du noch nie Magnum gesehen?«
    »In Rajshahi gibt es kein Fernsehen.«
    Ammu riß die Augen in gespieltem Schrecken auf. »Das ist ja furchtbar.«
    Beide lachten. Ammu klang so begeistert, daß es die Einsamkeit fast vergessen machte: Wie sie mit einem Teller auf den Knien darauf wartete, daß um acht die BTV -Nachrichten anfingen.

    Maya ließ den Kopf in das kühle Kissen sinken. Nur eine Minute, dachte sie, dann überreiche ich Ammu ihren Mangobaum und erkläre ihr alles. Sie schlief. Bei Sonnenuntergang fiel das Licht in roten Streifen durch die Jalousie ein, und später kam Ammu ins Zimmer und deckte sie zu. Sie hörte den Ruf des Muezzin, als der Tag zu Ende ging. Ein Flüstern in ihrem Ohr: Ob sie etwas essen wolle? Sie schlang die Hand um das Knie ihrer Mutter. Nein. Später schlüpfte eine Katze ins Zimmer und legte sich auf ihre Füße. Sie spürte den schnellen Herzschlag, die Hitze, die von dem kleinen Körper ausstrahlte.
    Sie träumte von Rajshahi.
    In ihrem Traum ist es das Ananasfeld, mit dem alles endet. Es ist ein Tag, an dem sie stolz mit dem Stethoskop um den Hals im Dorf herumläuft. Keine Goldkettchen; sie ist Ärztin. Früh an diesem Morgen hat sie einer Mutter und deren Zwillingssöhnen das Leben gerettet und den Notkaiserschnitt selbst durchgeführt, hat im perfekten Rhythmus geschnitten und genäht und die Hände tief in die doppelt belegte Gebärmutter versenkt. Und obwohl sie der Familie gesagt hat, daß sie die Kinder genauso hätten lieben müssen, wenn es Mädchen geworden wären, hat sie die Umarmungen der Frauen, ihre Erleichterung genossen. Maya kaut auf dem dreieckigen Betelpäckchen herum, das sie ihr angeboten haben. Jetzt durchquert sie mit langen Schritten das Dorf und läuft den Pfad entlang, der zur Hauptstraße führt.Mit schwingenden Armen, den Januarwind im Gesicht, geht sie am Teich vorbei, wo sie dem Jungen zuwinkt, dessen Bruder letztes Jahr von einer Schlange gebissen wurde (an dem Tag kam sie zu spät), duckt sich unter zwei Mangobäumen hindurch und entschließt sich zu einer Abkürzung durch das Ananasfeld. Schon nach wenigen Schritten, die Sonne brennt hoch am Himmel, sieht der Acker größer aus, als sie gedacht hat, aber sie ist nicht der Typ, der kehrtmacht. Also hebt sie den Sari bis zu den Waden und steigt vorsichtig über die scharfgezähnten Blätter der Ananaspflanzen hinweg. Zu gern würde sie einen Blattschopf auseinanderziehen und nachsehen, ob irgendwo
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