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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder
Autoren: Tahmima Anam
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finden sein und eine Menge Fragen mit sich bringen: Warum sie allein reiste, warum sie keinen Mann bei sich hatte, keinen Ehemann oder Vater.
    Im Bahnhof sah sie die alte Frau aus dem Zug wieder, mit offenem Tiffinbehälter. Maya war seltsam bewegt, sie wiederzusehen, schwenkte begeistert die Arme und ging zu ihr hin. Die Frau winkte sie zu sich.
    »Iß, iß«, sagte sie.
    »Wie kann das sein«, sagte Maya, »daß Ihre Tiffindose immer voll ist?«
    Die Alte lächelte und zeigte ihre winzigen, betelverfärbten Zähne. Maya hatte auf einmal schrecklichen Hunger und tunkte ein Stück Fladenbrot in das angebotene Curry.
    Stunden später tauchte der Nachtzug aus dem geschmolzenen Schwarz der Nacht auf und fuhr in den Bahnhof ein, und Maya half der alten Frau beim Einsteigen. Fünf Stunden bis Dhaka, flüsterte sie sich selbst zu und sagte die Namen der Städte auf dem Weg dorthin auf: Sirajganj, Mymensingh, Gafargaon. Nur noch fünf Stunden.

    *

    Maya hatte erwartet, daß der Anblick Dhakas sie überwältigen würde. Sie hatte sich vorgestellt, daß sie sentimental werden und sich nachdrücklich würde daran erinnern müssen, wie notwendig die letzten sieben Jahre im Exil gewesen waren. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie in den kühlen Februarmorgen, an dem die Wolken über den Himmel jagten, hinaustreten würde, und ihr ganzes altes Leben wäre mit einem Schlag wieder da: Die vielen Semester an der Uni, die Rikschafahrten zum Ramna Park, zum Modhumita Cinema und zur Pferderennbahn, und sie würde all die Jahre draußen auf dem Land bereuen. Doch als sie vor die Kamalpur Station trat, sah sie, daß alles häßlich und so laut war, als hätte jemand einen Lautstärkeregler voll aufgedreht. Es stank nach Menschen und Müll und Ruß. Alles war unglaublich in die Höhe geschossen – es gab Gebäude mit fünf oder sechs Stockwerken. Ihr Rikschafahrer hatte alle Mühe, auf der Mirpur Road zwischen den vielen Autos mit den ungeduldig plärrenden Hupen hindurchzukommen. Hinweise auf den Diktator waren allgegenwärtig: Graffiti an den Wänden nannten ihn den »General unserer Herzen« und den »Retter Bangladeschs«; überall standen fünf, sieben Meter hohe Plakatwände, auf denen er mit seiner hohen Stirn und demschmalen, selbstzufrieden wirkenden Schnurrbärtchen zu sehen war.

    Eine Stunde später stand Maya, ihren Rucksack ganz fest im Arm, vor ihrem Elternhaus Nummer 25, und fragte sich, was sie darin wohl vorfinden würde.
    Ihre Augen versuchten, sich an das neue Aussehen des Hauses zu gewöhnen. Es war wesentlich heruntergekommener, als sie es in Erinnerung hatte. Hier liefen graue Streifen an der Rückwand herunter, wo die Regenrinne undicht geworden war; dort senkte sich das Fundament ab, als ob es langsam, aber sicher wieder in die Erde zurückwollte. Und obendrauf die Ansammlung kleinerer Verschläge, aus denen das Obergeschoß bestand, von ihrem Bruder von Hand aus Ziegeln, Wellblech und Jute gebaut. Es sah aus, als ob ein ganzes Dorf vom Himmel gefallen und auf ihrem Flachdach gelandet sei.
    Früher hatte sie dieses Haus geliebt. Es war der einzige Ort, an dem die Erinnerungen an ihren Vater noch lebendig gewesen waren – seine Ellbogen auf dem Eßtisch, seine Schritte auf der Veranda. Wie er aus den Chappals geschlüpft war und die Füße aufs Bett gelegt hatte. Der Geruch seines Tweedanzugs an einem schwülen Tag. In diesem Haus lebten alle Gedanken, alle Hoffnungen, alle falschen Vorstellungen, die sie je von ihrem Leben gehabt hatte, vom Krieg, den sie gekämpft und gewonnen hatten, von ihrer Zukunft und der ihres Bruders. Doch als alles vorbei war, das Morden und der Waffenstillstand und die Gründung des neuen Landes, war ihr Bruder in die eine Richtung gegangen und sie in die andere. Und nichts davon hatte sie vorhergesehen.
    Steh hier nicht dumm rum, ermahnte sie sich selbst. Reiß dich zusammen und geh rein.
    Im Haus war alles still und blitzblank. Die Holzlehnen des Sofas glänzten. Der kleine Messingleuchter war poliert, der Spitzenläufer lag gestärkt und perfekt in der Tischmitte. Die Kissenzipfel ragten nach oben. Jetzt fiel ihr wieder ein, daß ihre Mutterden Haushalt stets so in Ordnung hielt, als könnte jede Minute ein Gast eintreffen und mit dem Finger über das Fensterbrett fahren, ob da Staub lag.
    Das Haus war bescheiden: Drei nebeneinander angeordnete Zimmer, die auf der Gartenseite durch eine Veranda miteinander verbunden wurden. Am Ende lag die Küche mit eigener kleiner Terrasse. Dahin
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