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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder
Autoren: Tahmima Anam
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tanzte auf dem unendlich breiten Fluß. Sie hielt dem Fährmann die Fahrkarte hin und bahnte sich einen Weg hinauf aufs Oberdeck, wo sie die einzige Frau war, die bereit war, in der prallen Sonne zu sitzen. Der Padma schwappte sanft gegen das Fährschiff, ohne die Macht seiner Strömung zu verraten. Maya kaute auf trockenen Keksen herum und versuchte sich zu erinnern, ob dies dasselbe Boot war, das sie nach Rajshahi gebracht hatte. Es hatte einen seltsamen Namen gehabt. »Hey!« rief sie einem kleinen Jungen in Uniform zu, »wie heißt das Boot hier?«
    » Padma .«
    Es mußte ein anderes Boot gewesen sein. Die Reise damals, als sie von zu Hause geflohen war, schien Ewigkeiten her zu sein. Sie hatte bei ihrer alten Freundin Sultana Zuflucht gesucht. Beide hatten während des Krieges in den Flüchtlingslagern ausgeholfen, wo Sultana alle damit schockiert hatte, daß sie den Lastwagen mit Hilfslieferungen selbst gefahren hatte. Maya dachte immer an das, was Sultana ihr in jenem langen Sommer vor der Unabhängigkeit erzählt hatte: Daß sie davon träume, nach Hause zu gehen, wenn der Krieg vorbei war, nicht in die Stadt, sondern zurück in das Dorf ihres Vaters. »Ich will die Erde unter meinen Füßen spüren«, hatte sie gesagt. Nach der Bücherverbrennung, als Maya gehen mußte, hatte sie Sultana angerufen und gefragt, ob sie bei ihr unterkommen könne. Sultana berichtete ihr, daß sie vor kurzem einen Mann geheiratet habe, den sie seit der Kindheit kenne, einen jungen Arzt. Sie arbeiteten zusammen in einer Klinik in Tangail; Maya könnte kommen, sie könnten ihre Hilfe gebrauchen.
    Drei Monate war sie geblieben, aber Tangail war Dhaka zu nah gewesen. Tag für Tag hatte Maya den Bussen hinterhergeschaut, die in Richtung Hauptstadt fuhren, und sich selbst herausgefordert: Steig einfach ein und fahr nach Hause! Außerdem waren Sultana und ihr Mann frisch verheiratet. Maya überraschte sie in der Küche, wie sie sich mit offenem Mund küßten, seine Hände in ihrem Haar.
    Sie ging, reiste in Zügen, Fähren und Rikschas durchs Land, bis sie schließlich am Universitätskrankenhaus in Rajshahi landete. Sie meldete sich anfangs wieder als freiwillige Arzthelferin, dann bewarb sie sich um eine Stelle als Assistenzärztin. Nach zwei Jahren am Krankenhaus erhielt sie die Zulassung und konnte eine eigene Arztpraxis eröffnen. Nazia war diejenige gewesen, die sie auf die Idee gebracht hatte, Nazia, die den langen Weg in die Stadt hinten auf einem tuckernden Dreiradtransporter zurückgelegt hatte, mit einem Baby in Steißlage. Einfach unmöglich, argumentierte Maya, daß die Frauen den langen Weg ins Krankenhaus schaffen mußten, um ihre Kinder zu gebären. Zu viele Kinder starben.
    Sie hatte irgendwann beschlossen, Frauenärztin zu werden und nicht Chirurgin. Sie hatte erlebt, wie sich die Gesichter der Schwangeren entspannten, wenn sie als Frau in das Untersuchungszimmer trat. Damals sagte sie sich, daß es eine reinpraktische Überlegung war. Jeder konnte Chirurg werden, aber was wirklich gebraucht wurde, war eine Ärztin für Frauen – eine Ärztin, die die Kinder zur Welt bringen und hinterher die Wunden vernähen und die Frauen in Verhütungsmethoden unterrichten konnte. Sie dachte nicht an die Schuld, die sie zurückzahlte, daß jedes der Kinder, die sie auf die Welt brachte, eines Tages gegen die Kinder aufgewogen würde, die nach dem Krieg von ihrer Hand gestorben waren.
    Es hatte noch nie eine Ambulanz oder Arztpraxis im Dorf gegeben. Nazia erzählte überall herum, wie Maya sie und ihr Ungeborenes vor dem sicheren Tod gerettet hatte, wie sie die Schwestern im Krankenhaus herumkommandiert hatte, wie geschickt sie ihr die Spritze in den Arm gegeben hatte. In diesem Jahr brachte Maya der gesamten Dorfbevölkerung vor dem Monsun bei, wie man Rehydrierungsflüssigkeit selbst herstellte: Eine Tasse voll Melasse, eine Prise Salz, einen Krug abgekochtes Wasser. Und die Monsunzeit verging, ohne daß ein einziges Kind starb. Als sie im Jahr darauf beim Bezirk eine Eingabe für eine Brunnenbohrung machte und Erfolg hatte, glaubte sie, die Herzen der Dorfbevölkerung gewonnen zu haben.
    Nazia und Masud bekamen ein weiteres Kind. Sie nannten es Maya.

    Als die Fähre in Jaggannathganj anlegte, war es schon dunkel. Maya sah auf die Uhr, ob sie wohl den letzten Zug noch erreichen würde. Der Baum in ihren Armen war schwer, und die Zweige kratzten sie an der Schulter. Sie mußte es versuchen; ein Hotel würde hier nur schwer zu
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