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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder
Autoren: Tahmima Anam
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sie gemietet hatte, stand jetzt leer, der rohe Betonboden war gefegt und gewischt. Und die Veranda, auf der sie ihre Patienten behandelt hatte, war ebenfalls leer. Verschwunden waren der Untersuchungstisch, der kleine Tisch, auf dem ihre Ausrüstung gelegen hatte, der hölzerne Stuhl, über den sie am Ende des Tages ihren weißen Kittel mit den Kugelschreibern in der Brusttasche gehängt hatte.
    Angefangen hatte es mit einer Handvoll Schlamm. Sie sagte sich, daß der Wind eine Kokosnuß oder ein Stück Holz gegen ihr Haus geweht haben mußte. Drei Tage lang schenkte sie dem Geräusch keine Beachtung.
    In der vierten Nacht das Lachen. Unmißverständlich: Jemand hielt sich den Mund zu, aber ein Prusten war ihm entwischt. Das nervöse, mädchenhafte Kichern eines jungen Mannes.
    Maya rannte nach draußen und starrte in die Finsternis, konnte aber nichts sehen. Nichts ist dunkler als eine mondlose Nacht in Rajshahi.
    Geendet hatte es Monate später mit dem Blinken eines Messers. Sie sah es wieder vor sich: Eine geschmeidige, helle Bewegung wie das Zungenlecken einer Katze, und etwas weiß Aufblitzendes, das ihr ins Auge fiel, der Saum eines langen Gewands, das über dem Knöchel eines Mannes schwebte, als er aus dem Zimmer schlüpfte und verschwand. Mayas Hand fuhr an ihre Kehle, an den Wundschorf, der dort noch schwarz und anklagend zu spüren war. Der Mann hatte sie nicht geschnitten, er hatte das Messer nur an ihren Hals gedrückt: Damit gab er ihr zu verstehen, daß sie noch nicht miteinander fertig seien, daß er jeden Augenblick wieder erscheinen und die Sache zum Abschluß bringen konnte.
    Ja, das Dorf würde ihr fehlen. Nazia und das Haus und dieMangos und der Weg rund um den Teich. Aber die Katzenzunge dieses Messers und die Narbe an ihrem Hals bedeuteten, daß sie wahrscheinlich nie mehr zurückkehren würde.

    *

    Kurz bevor der Zug losfuhr, belegte ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern die Bank gegenüber. Die Mutter hielt eines der zwei kleinen Kinder auf dem Schoß, das ältere saß eingeklemmt zwischen den Eltern. Die Mutter lächelte schüchtern; Maya vermutete, daß es ihre erste Zugfahrt war – ihr Nasenschmuck glänzte, an den Handgelenken trug sie zwei dünne Goldreife, ihr gesamtes Vermögen.
    Es war wirklich kein großer Verlust, daß die Frau ihres Bruders nicht mehr lebte. Die Aussicht auf das Zusammentreffen mit Silvi – schrecklich fromm, das Gesicht straff von dem Kopftuch eingefaßt, ohne das man sie seit dem Krieg nicht mehr gesehen hatte – war es gewesen, was Maya von der Heimkehr abgehalten hatte. Natürlich war auch ihr Bruder Sohail mit schuld. Und Ammu, die sie mit ihrer Wut allein gelassen hatte – ihrer Wut und dem verkohlten Gestank brennender Bücher, dem Geruch, der sie vertrieben und in den sieben Jahren ihrer Abwesenheit nie mehr verlassen hatte. Der Zug fuhr langsam durch Rajshahi und dann durch Natore, wo die Landschaft immer noch flach und trocken war. Die Gerüche der Reisfelder vermischten sich mit dem der gelb leuchtenden Senfpflanzen und der schwelenden Kuhfladen.
    Die alte Frau neben ihr öffnete den Tiffinträger, dem der Duft von Dal und gebratenem Blumenkohl entströmte. Die Familie gegenüber folgte ihrem Beispiel und packte Fladenbrot und Bhaji aus. Maya wurde hungrig; sie hatte nichts für die Reise eingepackt. Die junge Mutter riß das Brot in kleine Bröckchen und steckte sie dem Baby in den Mund. Das restliche Essen gab sie an ihren Mann weiter, den sie nicht ansah, als er den in Zeitungspapier verpackten Imbiß entgegennahm.
    Das ältere Mädchen wollte nicht essen, zupfte ihre Mutter am Ellbogen und schüttelte den Kopf. Maya durchwühlte ihre Tasche und fand zwei Tamarinden-Bonbons. Sie bot der Kleinen eines davon an; sie stand auf, kletterte auf Mayas Schoß und nahm sich das Bonbon von ihrer ausgestreckten Hand. Die Mutter wollte protestieren, aber Maya winkte ab. »Schon in Ordnung«, sagte sie. Die Kleine zog die Knie an die Brust und schlief ein. Maya mußte ebenfalls geschlafen haben; als sie die Augen wieder aufmachte, lag das Mädchen schwer in ihren Armen, und der Zug war schon fast am Bahadurabad Ghat. Jemand rüttelte an ihrer Schulter. Die alte Frau zeigte auf ihren Tiffinbehälter, in dem noch ein Stück Fladenbrot und ein Restchen Reispudding waren.
    »Iß«, sagte sie und kniff Maya in die Wange, »du bist zu dünn. Wer soll dich da heiraten?«

    *

    In Bahadurabad ging Maya auf die Fähre. Es war mittlerweile Nachmittag, und die Sonne
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