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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder
Autoren: Tahmima Anam
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hatte Maya ihnen erklärt, es ist das Down-Syndrom. Der Säugling wird anders sein, er wird Probleme haben, aber er wird überleben. Ich kann euch zeigen, wie man ihn versorgt.
    Der hat doch Schlitzaugen, hatte Masud gesagt. Guck dir die platte Nase an – hast du’s mit einem Chinesen getrieben, Frau, ja, mit einem Schlitzauge?
    Er ging zu der Versammlung. Er sagte es den anderen Männern. Sie meinten, sie hätten gewußt, daß etwas nicht stimmte,seit dem Tag, an dem sie und die Frau Doktor im Teich gebadet hatten.
    Das Schlitzauge ist nicht von mir. Du verdammte verlogene Hure.
    Einhundertundein Peitschenhiebe waren die Strafe.
    Eins, ein blutiger Striemen wie ein Fragezeichen, wo die Peitsche sich um ihre Wade gewickelt hatte.
    Heb den Sari hoch!
    Hure!
    Am Ende, als Maya die einzige noch verbliebene Zuschauerin war und sie sich verzählt hatte, dachte, daß es schon einhundertundeins wären, obwohl es erst hundert waren, ging sie zu ihrer Freundin hin, und die Peitsche traf sie auf dem Weg zu ihr, stach sie wie ein hungriges Insekt und ließ sie das Wort verschlucken, das sie hatte sagen wollen. Shesh. Fertig. Sie hatte zu früh gesprochen. Statt ein Trostwort sagen zu können, wurde sie von der Peitsche gezeichnet. Blitzschnell faßte sie an ihren Hals, wo sie getroffen worden war, und hatte Blut an der Hand. Und war das nicht ein Grinsen in den Augen des Mannes? Des Mannes, der den Befehl ausführte, der das Dorf schützte, den Ruf des Dorfes.
    Sie besuchte Nazia im Krankenhaus. »Bitte geh«, sagte Nazia. »Ich bin müde.« Sie lag mit verbundenen Beinen auf dem Bauch. Maya berührte ihren schwarzen, harten Fuß, und sie zuckte zusammen. »Laß mich allein«, flehte Nazia sie an.
    Maya wollte dabeisein, wenn die Haut sich wieder über Nazias Wunden schloß. Sie wollte dableiben, bis die Narben verblaßt und fast unsichtbar geworden wären – dünne, wurmartige Spuren, die über ihre Beine tanzten. Nazia würde aufstehen, und sie würden zusammen Widerstand leisten. Sie würden zur Polizei gehen, sie würden die Versammlungen sprengen. Aber Nazia sagte nein, und ihr schwarzer Fuß sagte nein, und Maya verstand, daß die Wunde offenbleiben würde, daß sie das Dorf voller Wut und Protest verlassen mußte.
    Als das Telegramm eintraf, überlegte sie gerade, wohin sie alsnächstes gehen könnte. Vielleicht in die Berge von Chittagong, oder irgendwohin in den Norden. Sie fuhr mit den Fingern die Karte Bangladeschs nach, die blauen Adern hinauf, den Jamuna, den Meghna, sie las laut die Namen der Städte: Mymensingh, Pabna, Kushtia. Sie saß unter dem Jackfruchtbaum vor ihrem Haus und aß eine Schale mit sauren Rosenäpfeln, als der Postbote vorfuhr und das Bein über den Fahrradsattel schwenkte. Sie bot ihm die Früchte an, was er, den Blick zu Boden gerichtet, ablehnte. Dann sagte er: »Doktor, in Ihrer Familie ist jemand gestorben.«
    Das war das einzige, wovor sie Angst hatte. Sie warf die Schale zu Boden und packte den Postboten an den Schultern. Er wich vor der Intimität der Berührung und den lila Flecken, den ihre Finger auf seinem Hemd hinterlassen würden, zurück.
    »Ist es meine Mutter? Bitte sag’s mir schnell.« Sie kniff die Augen zu, als ob er sie jetzt schlagen würde.
    »Ich weiß es nicht, ich kann kein Englisch lesen.«
    Sie riß ihm das Telegramm aus der Hand und öffnete es. Silvi. Silvi war tot.
    In dieser Nacht träumte sie, ihre Mutter wäre in ein weißes Leichentuch gewickelt und ihre Nasenlöcher wären mit Watte zugestopft. Am nächsten Morgen fing sie an zu packen. Durch ihren Tod hatte Silvi einen Waffenstillstand angeboten. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.
    Niemand kam, um sich von ihr zu verabschieden.

    Das Haus war verändert, aber es hatte überlebt. Und sie hatte auch überlebt, zwei Zugfahrten und eine Fähre, einmal quer durchs ganze Land, und jetzt legte sie den Kopf in den Schoß ihrer Mutter und brauchte nichts mehr zu tun, als an die vielen Male zu denken, in denen sie in dieses Haus zurückgekehrt waren, sie und ihr Bruder, und alles war unverändert gewesen und doch ganz anders, und ihre Mutter hatte immer gewartet.
    1 Fremdsprachige Begriffe werden im Anhang in einem Glossar erläutert.

1972
Februar
    Der Krieg war vorbei, und alle schönen und häßlichen Dinge waren schöner und häßlicher als vorher. Revolutionsführer Mujib kehrte aus dem Exil zurück, führte eine neue Währung ein und begann, sämtliche Gebäude umbenennen zu lassen. Wer auf seiten des Feindes
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