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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder
Autoren: Tahmima Anam
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zu lassen, schien Sohail nicht zu behagen. »Was für eine Ärztin willst du denn werden?« Er zeigte auf sich. »Arme und Beine? Augen und Ohren? Herz?« Er lachte, als sei es ein absurder Gedanke, Maya das Herz eines Menschen anzuvertrauen.
    »Chirurgin«, sagte sie.
    Er klatschte. »Toll, wunderbar! Dr. Sheherezade Haque Maya, die Wunden näht und Tumoren den Garaus macht.«
    »Wie lang dauert das Studium?« fragte Ammu.
    »Arterienklöpplerin.«
    »Sechs Jahre.«
    »Vielleicht hast du bis dahin geheiratet.«
    Maya fing an sich aufzuregen. »Ja und? Kann ich denn nicht heiraten und trotzdem Ärztin werden?«
    »Ich meine ja nur, es kann sich viel ändern.«
    »Und wo willst du in sechs Jahren sein, Ammu?« fragte Sohail.
    Ammu sah nach oben, wo der Mond gestanden hätte, wäre der Himmel nicht bedeckt gewesen. Ihr Gesichtsausdruck war im Dunkeln schwach zu erkennen, als sie sagte: »Das weiß Gott allein. All diese Zeit habe ich nichts gewollt als nur deine gesunde Rückkehr.«
    »Und du, Bhaiya?« fragte Maya Sohail.
    »Sechs Jahre? Keine Ahnung. Ich weiß es nicht.«
    »Verheiratet?«
    »Weiß noch nicht. Das kommt mir ein bißchen sehr optimistisch vor.«
    »Du bist doch immer ein Optimist gewesen.«
    Er seufzte und ließ sich in den Stuhl zurücksinken. »Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.« Sie wußten, was er dachte. Solange sie denken konnten, war Sohail in das Mädchen von gegenüber verliebt gewesen. Sie hieß Silvi. Als der Krieg ausbrach, hatte ihre Mutter sie schnell mit einem Armeeoffizier verheiratet. Der Offizier war gestorben, und Silvi war jetzt Witwe. Sie lebte nach wie vor auf der anderen Straßenseite und wartete vielleicht nur auf den Tag, an dem Sohail nach Hause kommen und an ihre Tür klopfen würde.
    Lange sagte keiner etwas.
    »Sie ist wahrscheinlich noch in der Trauerzeit«, sagte Ammu.
    Und dabei ließen sie es bewenden.

    An jenem Abend auf der Veranda, als ihr Bruder aus dem Krieg zurück war, dachte Maya, die Zeit des Wartens sei vorbei. Sie sah ihrer Mutter zu, wie sie den Gebetsteppich entrollte, das Gesicht nach Westen wandte und Gott für Sohails Rückkehr dankte. Maya glaubte, die Zukunft erstrecke sich flach und endlos und vorhersehbar wie das Delta vor ihr. Wie sie sich geirrt hatte.

1984
Februar
    Maya konnte nicht schlafen. Sie wartete bis zum Morgengrauen, zog ihre Turnschuhe an, wickelte sich einen Schal um den Kopf und ging hinaus. In Rajshahi hatte sie eine allmorgendliche Routine gehabt: Einmal um den Teich, quer über das Sesamfeld ihres Nachbarn, im großen Bogen um die Moschee, über die Straße Richtung Stadt und zurück nach Hause, bevor das Morgengebet vorbei war. Jetzt beschloß sie, über die Seitenstraßen zum Dhanmondi Lake zu laufen. Die schlafende, in Morgennebel gehüllte Stadt mit den weißgetünchten Häusern, der auf den Balkonen tanzenden Wäsche, den breiten, verlassen daliegenden Straßen glich eher als am Vortag der Stadt ihrer Erinnerungen.
    Sie joggte einmal rund um den Dhanmondi Lake und bemerkte, wie stark die Bäume gewachsen waren; der Weg um den See war schmaler geworden. Mehrere Ruderboote lagen miteinander vertäut im Wasser, davor ein Schild: ZEHN TAKA PRO STUNDE . Sie blieb mit pfeifendem Atem stehen und lehnte sich an einen Baum. Sie war schnell gerannt, schneller, als sie gemerkt hatte, und hockte sich zum Ausruhen kurz ans Ufer. Der See war so dunkelgrün wie Limetten. Dann ging es weiter, und jetzt waren auch schon die vielen Klänge des Tagesanbruchs zu hören: Leute, die sich aus dem Fenster beugten und ins Gras hinunter ausspuckten, das Gebimmel der Fahrradrikschas, die Metallrolläden, die rasselnd an den Geschäften hochgeschoben wurden. Sie überquerte die Mirpur Road, auf der bereits die ersten Autos unterwegs waren. Als sie um die nächste Ecke bog, fand sie sich vor dem Friedhof wieder, auf dem ihr Vater begraben lag.
    Sie sah sich um. Der Friedhofswächter war noch nicht da und das Tor unverschlossen. Sie schlüpfte hinein. Der Friedhof wirkte kleiner, weil er auf einmal von allen Seiten von Gebäuden umringt wurde. Wie das wohl wäre, fragte sie sich, jeden Tag aus dem Fenster auf diese kleinen Rechtecke des Todes zu blicken, zu sehen, wie Blumen niedergelegt und Gebete gesprochen wurden und geweint wurde. Wenn man seinen Kindern jede Nacht beim Einschlafen sagen müßte, daß es keine Gespenster gibt. Vielleicht machte es den Anwohnern ja gar nichts aus. In der Stadt gab es jetzt schon keinen Platz mehr, hatte sie in
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