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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition)
Autoren: Erica Fischer
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Freundinnen und Freunde abgelegter Lieben begutachtet.
    Auf dem Volksstimmefest also trat Michaël vor Ruth wie eine Erscheinung: Seine Haare waren kurzgeschnitten, ein für den Anlass völlig ungeeignetes, mit Dollarzeichen gemustertes orangefarbenes Buschhemd umspielte seine runden Hüften, irgendeine wohlmeinende Freundin hatte es ihm geschenkt. Er habe begriffen, dass er ihr seinen Kult des Hässlichen nicht zumuten könne, sagte er verschämt.
    «Kult des Hässlichen?», fragte Ruth entgeistert. Seit Ende der heißen Phase der Frauenbewegung bemüht sie sich um ihr Aussehen. So hat er sie kennengelernt: mit roten Lippen, Highheels fürs Rendezvous und feiner Unterwäsche. Nicht immer hatte sie so ausgesehen, und ihr erstes Lippenrot nach Jahren der Enthaltsamkeit war ein schamhafter Akt der Rebellion gegen die feministische Kleiderordnung der Siebziger. Auch dass sie sich ihren neuen Fundus an BHs, Slips und Hemdchen mit dezenter Spitze just in jenem Laden kaufte, dessen Fenster sie seinerzeit mit lila Farbe besprüht hatte, entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Dass sie überhaupt BHs trug, wäre in den Siebzigern ein Sakrileg gewesen. Zwar hatte Ruth, auch als sie in Jeans, Palästinensertuch und Nato-Jacke herumlief und versuchte, ihre Weiblichkeit herunterzuspielen, gut ausgesehen. Aber als ihr in der WG die geliebte Nato-Jacke (zusammen mit einem Exemplar der «Grundrisse» von Karl Marx) geklaut wurde, nahm sie das Ereignis zum Anlass, um ihre Garderobe zu überholen.
    «Wenn mein Freund Walter mit mir in die Kneipe gegangen ist, um sich ein Mädchen aufzureißen, hat er mich immer als Gesprächspartner gebraucht, um der Frau an unserem Tisch zu zeigen, was für ein toller Hecht er ist. Und sie sitzt da und himmelt ihn an. Das war für mich unerträglich. Ich wollte mit meinen Mängeln und Ängsten geliebt werden und nicht, weil ich eine Funktion als Mann erfülle, weil ich Termine in London und Paris habe. Wenn eine Frau meine unansehnliche Erscheinung überwindet, dann hat sie sich wenigstens Mühe gegeben, nach mir selbst zu schauen und nicht nach meinem Klischee.»
    «Ist das nicht eine maßlose Überheblichkeit? Wir haben doch auch ein Recht auf Schönheit.» Bei Ruth meldeten sich feministische Reflexe. «Ich strenge mich an, gut auszusehen, für dich und für andere, das wird von mir erwartet.»
    «In Beziehungen, die mir wichtig waren, habe ich ja auch immer sofort begonnen, mein Aussehen zu ändern. Das war mir schon klar, dass ich so nicht zumutbar war. Es hat mir dann auch Spaß gemacht, mich um mein Äußeres zu kümmern – wenn ich mir sicher sein konnte, dass endlich ich gemeint war und nicht meine Funktion als Mann.»
    Ruth hatte also noch Grund zur Hoffnung.
    «Du suchst dir deine Frauen doch auch nach ästhetischen Kriterien aus. Auf den Fotos, die du mir gezeigt hast, waren allesamt gutaussehende Frauen. Und ich selbst bin ja auch nicht übel.»
    «Du bist wunderschön», sagte er und küsste ihr die Hand. «Da bin ich wirklich in der Zwickmühle. Mit dem Kopf wehre ich mich gegen eine Normierung der Körperästhetik von Mann und Frau, aber ich merke, dass ich selbst Kriterien anwende, die mir suspekt sind. Ich wäre ungleich stolzer, wenn ich mich über solche ästhetischen Normen hinwegsetzen könnte.»
    Ruth war froh, ihm diese Anstrengung nicht abverlangen zu müssen.
    Dann bot er ihr an, seinen Körper innerhalb eines Monats in Form zu bringen, sie müssten sich, wenn ihr das lieber wäre, während dieser Zeit nicht sehen. Ihn mehrere Wochen nicht zu sehen, war für Ruth schon längst unvorstellbar. Dass er sie ohne jede Einschränkung wollte, wirkte wie eine Droge, gegen die sie machtlos war. Da war plötzlich einer, der ihr alles, was ihr bisher gefehlt hat, im Übermaß anbot. Begeistert sah sie zu, wie sein Fett von Tag zu Tag schmolz. Er aß nur noch Gurken und Tomaten und hörte mit dem Trinken auf. Zum Vorschein kamen hübsche Schlüsselbeine und kantige Hüftknochen, bald konnte er die Jeans tragen, die ihr selbst nicht mehr passten. Und seine vom Alkohol verquollenen Augen wurden wach und klar. Der hässliche Frosch verwandelte sich innerhalb von sechs Wochen in einen Prinzen, wie sie ihn sich bezaubernder nicht wünschen konnte.
    Doch als sie wieder mit ihm schlief, als sie sich so weit geöffnet hatte, dass alte Wunden bloßlagen, kehrte die Angst zurück, die Atemnot, das Asthma, manchmal hatte sie Weinkrämpfe. In ihrer Familie hatte es keine Berührungen gegeben.
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