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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition)
Autoren: Erica Fischer
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Die Wechseljahre verursachen ihr kaum Beschwerden, höchstens gelegentliche Hitzewallungen nach dem Kaffee und in der Nacht. Ab und zu wacht sie auf, weil sich ein Tümpel von Schweiß zwischen ihren Brüsten angesammelt hat. Und sie kommt nicht umhin, Veränderungen an ihrem Körper festzustellen, ein Altersfleck auf dem linken Handrücken, geplatzte Äderchen am Nasenflügel und an der Innenseite der Knie, schwer werdende Augenlider, die allmähliche Gewichtszunahme, jedes Jahr ein Kilo mehr. Michaël weigert sich, diese körperlichen Veränderungen mit ihr zu besprechen. Mit dem Schwinden der sexuellen Spannung hat sich zwischen ihnen eine Mauer von Scham aufgebaut, die ein offenes Gespräch über intime Dinge nicht mehr zulässt. Vielleicht ist er auch einfach zu jung, denkt Ruth, sein Alter ist noch weit.
    Nach außen hin wirken sie wie ein glückliches Paar. Und Ruth ist glücklich, einen anderen Gedanken lässt sie nicht zu. Wie es Michaël geht, weiß sie nicht. Er hat sich noch nie beklagt.

2
    Michaëls Mission nahm am 8. Dezember ihren Anfang, an seinem Geburtstag. Längst war der Krieg in Europa wieder heimisch geworden, Menschen flohen vor den ethnischen Säuberungen, aber die Grenzen waren geschlossen, kaum hatte der Krieg begonnen, wurde in ganz Europa die Visumpflicht eingeführt. Michaël und Ruth unterhielten sich über damals, als die Juden nach der sogenannten Reichskristallnacht vor den Konsulaten Schlange standen. Sie fühlten sich wie in einer Zwangsjacke, sahen den elenden Zug der Vertriebenen im Fernsehen und konnten nichts tun.
    Ruth ist mit Krieg aufgewachsen, er ist aus ihrem Leben nicht wegzudenken. Aber sie hat Glück, ihre Familie war auf der richtigen Seite. Die ermordeten Großeltern haben ihr einen Heiligenschein hinterlassen. Sie starben, damit ihr Mann stolz sein kann, ein Opferkind zur Frau genommen zu haben.
    «Sieht man es?», fragte Michaëls Vater, als sein Sohn ihm unterbreitete, er würde eine Jüdin heiraten. Weshalb hatte es Michaël nötig, seinem Vater diese Mitteilung zu machen? Heute ist es egal, wer wen heiratet, zumal Religion für sie beide nichts anderes ist als «Opium fürs Volk».
    Als Ruths Vater seinem Vater einst mitteilte, er würde ihre spätere Mutter heiraten, barg diese Eröffnung immerhin Sprengkraft. Es war abzusehen, dass ihr Heimatland nicht mehr lange existieren würde, dass die deutschen Rassengesetze auch an den österreichischen Alpenseen gelten würden. Über das Entsetzen ihres Großvaters ist Ruths Vater erschrocken und empört gewesen, er hatte nicht damit gerechnet, immerhin war auch er Sozialdemokrat. Michaël hingegen wusste, was kommen würde, freute sich im Voraus auf die gelungene Provokation. Er hätte seinem Vater auch eröffnen können, seine künftige Frau sei Feministin und längst über das weibliche Verfallsdatum hinaus. Auch das hätte diesem missfallen, doch die Jüdin war eine andere Dimension. Schau her, du alter Nazikumpel, so räche ich mich an dir, wollte ihm Michaël sagen, ich besudle dein gesundes puritanisches Erbe mit nichtarischem Blut. Und der Vater gönnte dem Sohn das Vergnügen: «Sieht man es?» Michaël fühlte sich bestätigt, ein weiterer Anlass, seinen Vater zu verachten und bloßzustellen. «Na logisch», antwortete er, «sie hat eine Hakennase und rötliches Kraushaar.» Da wusste sein Vater Bescheid. Er kannte seinen Sohn, und doch lief er ihm immer wieder von neuem ins Messer.

    Anders als die Bilder von den vergangenen ethnischen Säuberungen in Europa, mit denen Ruth aufgewachsen ist, waren die Fernsehbilder aus dem aktuellen Flüchtlingsdrama für sie ebenso quälend wie für Michaël. Der Zug der Frauen und Kinder über die verschneiten Berge, nur notdürftig geschützt vor der Kälte, ließ sie augenblicklich an die Deportationen der osteuropäischen Juden denken, die verwirrt und ohne wirklich zu verstehen, was mit ihnen geschieht, in die Viehwaggons gestoßen werden. Wäre ich nur zehn Jahre früher geboren worden, hätte ich eine von ihnen sein können. Dieser Gedanke bildet die Grundlage ihrer Identität als Jüdin. Dass es darüber hinaus nichts anderes, Positives, gibt, hat Ruth ihrer Mutter oft genug vorgeworfen. Geblieben ist eine gesteigerte Sensibilität für Rassismus, Diskriminierung und Verfolgung.
    Doch vor dem Fernsehapparat begnügte sie sich damit, entsetzt und wütend den Kopf zu schütteln und «schrecklich» zu murmeln. Ansonsten lebte sie ihr kleines Leben weiter, suchte Silber
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