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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition)
Autoren: Erica Fischer
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Wenige Wochen vor dem freudigen Ereignis teilte er ihr mit versteinerter Miene mit, dass er Evelyn heiraten werde. Jegliche Erklärung oder Aussprache verweigerte er. Geneviève war schwer geschockt, kehrte nach Frankreich zurück und war erst nach vielen anstrengenden Therapiejahren in der Lage, ein halbwegs normales Leben zu führen.

    Michaël ließ es sich nicht anmerken, falls Ruths Ablehnung seines Körpers ihn kränkte, und rief immer wieder an. «Es war für mich sehr interessant zu erleben», vertraute er ihr später an, «wie ich nach unserer Begegnung nicht mehr bereit war, in meinen Alltagstrott zurückzukehren. Ich hatte keinen Grund, mir Hoffnungen zu machen, und trotzdem konnte mich nichts davon abhalten, genau das Gegenteil zu betreiben. Es war ein tiefer Einschnitt in meinem Leben.»
    Das war es auch für Ruth. Etwas an ihm wirkte stärker als seine vernachlässigte Erscheinung. Seine tiefe Stimme strahlte Autorität aus, neben diesem Mann fühlte sie sich wie das kleine Mädchen in der schwedischen Kleinstadt, das an den Vater geschmiegt den dunklen Pfad entlangging, der die Abkürzung zu ihrem Haus war. Besonders abends, wenn es im Geäst raschelte, war es unheimlich dort, doch an der Seite des Vaters konnte ihr nichts geschehen.
    Es faszinierte sie auch die Radikalität von Michaëls Überzeugungen. Wer leistet sich heutzutage schon einen moralischen Standpunkt? Ruth widersprach nie, denn meist redete er von Dingen, über die sie nur oberflächlich nachgedacht hatte. Davon, dass Kunst kein Selbstausdruck sein dürfe, sondern eine an andere gerichtete Mitteilung, dass Kunst politisch sein und anstreben müsse, die Welt zu verändern. Was wusste sie schon davon? Sie fand irgendwo beim Trödel einen schönen Stein und schuf um ihn herum ein Schmuckstück, ließ sich durch die Natur zu einer gestalterischen Idee anregen. Die obendrein noch gefällig sein musste, um verkäuflich zu sein.
    Michaël bemühte sich, oft vergebens, bei österreichischen und niederländischen Zeitungen und Zeitschriften um journalistische Aufträge und besserte sein Einkommen mit Gelegenheitsarbeiten auf: Wohnungen renovieren, Computer reparieren, Software entwerfen, Tonbänder abtippen. Er ist geschickt, kann alles, und wenn er nicht weiterweiß, improvisiert er. Eigentlich versteht sich Michaël als Schriftsteller, doch seine Sprache, sagen die Lektoren, sei zu kompliziert, seine Texte seien unverkäuflich. Aber Michaël lässt sich nichts sagen. Lieber tippt er Tonbänder ab, als sich anzupassen. Er will wehtun, sagt er, zum Denken anregen, zu Erkenntnissen führen. In einer Welt, in der die meisten alles daransetzen, sich anzupassen, ist eine solche Haltung für andere zwar anstrengend, aber doch auch eindrucksvoll.
    Ruth war beeindruckt. Andächtig hörte sie ihm zu, wenn er ihr seine Position mit dieser schönen Stimme erläuterte und verächtlich von Künstlern sprach, deren Werk vor allem gefällig sein wollte. Dass er mit solchen Äußerungen ihre Arbeit herabsetzte, sah Ruth nicht. Was sie schuf, war ja vielleicht auch nicht als Kunst zu betrachten. Schmuck war da, um zu gefallen, die Trägerin zu schmücken. Auch Michaël schien dieser Widerspruch nicht zu stören. Alles, was sie tat, schien ihm recht zu sein.

    Nach der ersten Begegnung trafen sie sich wieder, sie konnte nicht widerstehen. Sex hatten sie vorläufig keinen mehr, doch gerührt beobachtete sie seine Bemühungen um die Verbesserung seines Äußeren.
    Dass sie sich auf dem Volksstimmefest treffen würden, wussten sie nicht, aber denken hätten sie es sich können. Noch heute bezeichnet die geschrumpfte Kommunistische Partei Österreichs die alljährliche Großveranstaltung auf der Praterwiese als «Wiens schönstes Fest», obwohl das einst täglich erscheinende Zentralorgan heute nur noch monatlich zu haben ist und sich zu «Volksstimmen» pluralisiert hat. Weder Ruth noch Michaël waren jemals Kommunisten im Sinne einer Parteimitgliedschaft, aber das kurz nach Kriegsende gegründete Fest lässt sich in Wien keiner entgehen, der auch nur einigermaßen links angehaucht ist. Lesungen unter dem Banner «Das linke Wort», «Essen und Kunsthandwerk aus fünf Kontinenten», eine kubanische Musikgruppe und viele Caipirinhas sorgen alljährlich in der Spätsommerhitze für unverminderten Massenandrang. Das Wesentliche am Volksstimmefest aber ist, dass man sich trifft. Totgeglaubte Bekanntschaften werden aufgefrischt, alte Feindschaften begraben, die neuen
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