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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition)
Autoren: Erica Fischer
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Umarmen, Küssen und Streicheln war unbekannt. Ihr Bruder machte zur Begrüßung eine steife Verbeugung, die Hand reichte er nur, wenn es unbedingt sein musste. Als Ruth etwa vier war, steckte ihr der Vater einmal den Finger ins Ohr, das ist eine der wenigen Berührungen, an die sie sich erinnert. Sie saß auf seinem Schoß und hielt ganz still, horchte gebannt auf das wohlige Rauschen, das der Finger in ihrem Ohr erzeugte. Es ist eine so starke erotische Erinnerung, dass sie nicht einmal ihrer Therapeutin davon zu erzählen wagte. Das Rauschen im Ohr gefällt ihr heute noch. Michaël mag es nicht, wenn sie ihm den Finger ins Ohr steckt.
    Ihr ganzes Erwachsenenleben hindurch suchte Ruth das Fehlen körperlicher Nähe in der Kindheit durch Sex auszugleichen. Fast immer wurde sie enttäuscht, denn es genügte einfach nie. Doch unermüdlich suchte sie weiter. Oft brach sie nach dem Orgasmus in Tränen aus, denn der Mangel machte sich augenblicklich wieder bemerkbar. Ihre Unersättlichkeit schreckte die Männer ab, sie fühlten sich von ihrem Sehnen bedrängt und flohen. Und dann kam Michaël, und seine Liebe duldete keine Widerrede. Sträuben war sinnlos. Für sie war es wie das ungläubige Staunen, das einen überkommt, wenn man nach einer Irrfahrt durch eine fremde Stadt plötzlich unerwartet vor dem verloren geglaubten Ziel steht.
    Gib acht auf mich, bat sie ihn noch, und er versicherte ihr, diesmal Verantwortung übernehmen zu wollen, für sie als Frau und für sie als Jüdin, er schulde es ihr ebenso wie der Geschichte. Auf männliche Machtausübung wollte er als «Nazikind» und «Angehöriger des Tätergeschlechts» mit Freuden verzichten, dies sei seine moralische Pflicht, sein Platz sei in der zweiten Reihe. Von so viel historischer Größe überwältigt, versprachen sie einander, es diesmal besser zu machen.
    Ruth hatte einen Mann geheiratet, der entschlossen war, den Männern die persönliche, berufliche und politische Kumpanei zu verweigern. Es war eine Haltung, die nur selten auf Verständnis stieß. «Während man dir als Frau das Recht auf Widerstand zugesteht, umgibt mich ein Vakuum betretenen Schweigens», sagte Michaël. «Der muss einen Knall haben», mokierte sich eine von Ruths Freundinnen.

    Mit seinem Vorsatz, jeglicher Machtausübung zu entsagen, machte er ernst. Von Anfang an ordnete er sich ihr unter, hielt ihr die Zange mit dem winzigen Stück Silber, wenn ihre beiden Hände für die filigrane Arbeit nicht ausreichten, brachte das Auto zur Werkstatt, bügelte ihre Blusen, richtete ihr den PC ein und hatte den gefliesten Küchenboden gewischt, noch ehe sie sich im Bett das erste Mal streckte. Beim Frühstück fasste er für sie die Nachrichten zusammen, die er vor ihrem Aufwachen in der Zeitung gelesen hatte. Er brauchte weniger Schlaf als sie, und nie kam es vor, dass sie nach dem Aufwachen noch im Bett kuschelten, wie Ruth es so gerne mochte.
    Sie wohnten im Amsterdamer Stadtteil de Jordaan. Als sie dorthin zogen, war das noch nicht der Szenekiez, in dem sich später immer mehr Künstler und Intellektuelle angesiedelt und die Mieten in die Höhe getrieben haben. Zu Beginn hatte Ruth noch keine Freunde, und auch Michaël war zu lange im Ausland gewesen. Außerdem neigte er dazu, Leute, die sich für ihn interessierten, zu vergraulen. Mit einem der wenigen, die ihm von früher geblieben waren, brach er die Freundschaft ab, weil der nicht einsah, dass er seiner Putzfrau denselben Stundenlohn zahlen sollte, wie er selbst verdiente. So lebten sie abgeschieden in ihrer kleinen Dreizimmerwohnung unter dem Dach. Das größte Zimmer war ihr gemeinsamer Arbeitsraum. Michaël zwängte seinen Schreibtisch an den Rand, um Ruth möglichst viel Platz in der Nähe des Fensters zu überlassen. Wenn Gäste zum Essen kamen, stellten sie zwischen ihren Arbeitsplätzen den dunkelbraunen englischen Esstisch auf, der aufgeklappt einem Tausendfüßler ähnelte. Weder in der Küche noch im sogenannten Wohnzimmer mit der IKEA-Couch und dem Fernsehapparat war genügend Platz für einen größeren Tisch. Ruth fand es schade, dass sie so selten Gäste hatten.
    Seit Jahren hatte Michaël außer einigen Artikeln und Filmrezensionen nichts geschrieben, ein angefangenes Buch vergilbte im Ordner. Er habe dafür keine Zeit, sagte er. Sein Geld verdiente er wie in Österreich mit Gelegenheitsarbeiten. Ruth konnte nur ahnen, dass er mit der Selbstbeschränkung nicht glücklich war. Er sprach nicht mit ihr über diese Dinge. Ruth
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