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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition)
Autoren: Erica Fischer
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stehen sie beide da und schauen aneinander vorbei. Was erwartet er von ihr? Soll sie ihm etwas anbieten wie einem Gast? Soll sie ihn ins Wohnzimmer bitten? Will er erst einmal allein sein? Will er gleich zum Computer? Oder hat er das Bedürfnis, ihr etwas zu erzählen?

    In der ersten Zeit haben sie noch täglich telefoniert, da war sie halbwegs auf dem Laufenden. Sie half ihm von Amsterdam aus, so gut sie konnte, verhandelte mit potenziellen Gastgebern, gab deren Daten an Michaël weiter, faxte Presseerklärungen an die Medien. Seit sich ein Verein gebildet hat, der diese Arbeit erledigt, sind ihre Telefonate seltener geworden. So kostbar sind sie ihr, dass sie abends kaum noch außer Haus geht, unruhig auf einen Anruf von ihm wartet. Die paar Freundinnen, die sie in Amsterdam gefunden hat, wundern sich schon, dass sie nie etwas von ihr hören. Sie ist außerdem so geistesabwesend, dass sie sich anderen nicht zumuten mag. Ihr Entsetzen über die plötzliche Veränderung in ihrem bislang so gemächlichen Leben hat sie in eine Art Starre versetzt. Während sie neben dem Telefon sitzt und wartet, befingert sie ein käferartiges Tier aus Metall, das ihr eine Wiener Freundin zum Geburtstag geschenkt und das sie aus Sentimentalität nach Amsterdam mitgenommen hat, und fühlt sich wie Gregor Samsa.
    Ihre einzigen Gäste sind die Marienkäfer. In diesem Jahr sind sie in Scharen über ihre Wohnung hergefallen. Seltsam, wie anders die Käfer aussehen. Als Kind liebte sie diese niedlichen Tierchen mit ihren roten Flügeln und den schwarzen Punkten. Hießen sie nicht auch Maikäfer, oder waren das diese dicken braunen, glänzenden Dinger, die man massenweise von den Bäumen schüttelte? Wenn man auf sie trat, krachte es, und eine weißliche Flüssigkeit trat aus. Diese wiederum scheinen gänzlich verschwunden zu sein, die Jüngeren kennen sie nicht einmal mehr. Ausgerottet. Hieß es «Maikäfer flieg» oder «Marienkäfer flieg»? Da fällt Ruth ein, dass man in ihrer Jugend in Österreich «Frauenkäfer» zu ihnen sagte, deshalb weiß sie es nicht so genau. «Der Vater ist im Krieg, die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt …» Ruth hatte als Kind keine Ahnung, wo Pommerland liegt und was es mit diesem Liedchen auf sich hatte, für sie war es einfach ein Kinderreim, den sie gemeinsam mit den anderen hersagte. Die heute eher bräunlichen Marienkäfer kleben an der weißen Jalousie vor dem Fenster wie eingetrocknete Blutflecke, und irgendwann fallen sie ab, bedecken den Boden mit ihren harten Leichen. Oder sie fliegen dem Licht entgegen und verenden an der Glühbirne. Erst kürzlich hat sie im Deckenfluter ein Massengrab entdeckt, ein ganzes Kehrblech voll sammelte sie auf. Ekelhaft, nichts ist geblieben vom einstigen Charme dieser Tierchen. Wenigstens sind ihre Kadaver geruchlos. Diese Marienkäfer müssen nicht erst nach Pommerland fliegen, um abzubrennen. Ihre kleinen Körper zerbröseln in der Hitze. Sie haben auch keine Saison mehr, im tiefsten Winter spazieren sie träge übers Fensterbrett. Woher sind sie gekommen? Wurden sie in der Wohnung gezeugt? Sind sie Mutanten, die die freie Natur nicht mehr kennen? In ihrer Wohnung gibt es nur eine einzige mickrige Topfpflanze, die kann ihnen die Natur doch nicht ersetzt haben. Im April dürften sie noch nicht sterben, müssten voller Leben sein, sich paaren, draußen auf der Wiese. Vielleicht ist ihnen der Frühling genauso zuwider wie ihr selbst. Müde schleppt sie sich durch den Tag und wartet auf die erlösende Nacht. Endlich schlafen. Doch wenn sie ins Bad muss, könnte sie auf einen Marienkäfer treten. Was, wenn er noch am Leben wäre?
    Schon immer ist Ruth der Frühling zuwider gewesen, seit ihrer Kindheit leidet sie an Heuschnupfen. In diesem Jahr ist es besonders schlimm, ihre Abwehrkräfte sind mit Michaël beschäftigt. Der Rotz breitet sich aus über Jochbein und Wangen, rinnt als zähe Masse die Speiseröhre hinunter, tritt als gelber Schleim aus den Augen. Ihr Atem kommt stoßweise aus geöffnetem Mund wie ein Röcheln. Die Augen jucken. Am liebsten würde sie sie mit einem Grapefruitlöffel aus den Höhlen heben. Der hat vorne spitze Zacken, die das Fruchtfleisch von der Schale lösen, ohne die bittere weiße Haut mitzunehmen. Ruth schluckt und schluckt den Rotz hinunter, und immer kommt neuer nach. Eine Attacke. Krieg. Die Pollenarmee marschiert im Gleichschritt auf sie zu. Die Pollen glitzern im grellen Aprillicht und richten ihre Spieße auf
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