Mein Erzengel (German Edition)

etwa zwanzig Minuten. Ruth ist aufgeregt. Der Zug fährt durch eine triste Industrielandschaft, der Himmel ist grau. Ab und zu grasen neben einer Fabrik ein paar Schafe.
    Rings um den Bahnhof wird gebaut. Ein zwischen Bauplanken eingezwängter Pfad führt in die Stadt. Eigentlich wollte sich Ruth ein Fahrrad mieten, findet aber keinen Fahrradverleih, ungewöhnlich für die Niederlande. Als sie sich dem Markt nähert, fragt sie einen Passanten, der sie zum Bahnhof zurückschickt. Da zieht sie es vor, zu Fuß zu gehen, der Ort ist nicht groß.
    An der Brücke eine kleine Figurengruppe aus Bronze. Ein Mann mit einem Fahrrad ballt die Hand zur Faust. Eine Tafel erklärt, dass der Bürgermeister der Stadt im Februar 1941 zum Streik gegen die deutschen Besatzer aufrief. Auf der anderen Seite der Brücke wird es trist. Eine Kreuzung mit Kreisverkehr, in die vier breite Straßen mit Radwegen münden. Einförmige Hochhäuser. Kein Mensch ist unterwegs. Es weht ein eisiger Wind.
    Eine mit einem Schild als Spielstraße ausgewiesene blitzsaubere Gasse führt hinein in die Reihenhaussiedlung. Hier kuscheln sich die hübscheren Häuser aneinander. Ziegelrot mit großen vorhanglosen Fenstern, in den hohen Dächern Mansardenzimmer. Kleine, von Hecken umgebene Vorgärten. Satellitenschüsseln überall. Vor jedem Haus ein Auto.
    In der Mitte eines ovalen Platzes erhebt sich ein wuchtiger Baum, umgeben von Gebüsch und von der Straße getrennt durch einen niedrigen Metallzaun. Der Baum hat einen Namen: Pterocarya fraxinifolia, Kaukasische Flügelnuss. So steht es auf der Tafel. Und am Rande des Platzes endlich Michaëls Haus, nicht zu unterscheiden von den anderen. Nur in den Fenstern statt Nippesfiguren Blumentöpfe. Im Vorgarten eine hohe Zeder und eine Bank mit Holztischchen. An der Wand lehnen drei Fahrräder, zwei große und ein kleines. Ruth steigt über den Zaun und schlüpft zwischen die Büsche. Wenn sie sich hinhockt, kann sie von hier aus beobachten, ohne gesehen zu werden. Ein Radfahrer kommt vorbei und schaut sie angeekelt an, bestimmt denkt er, sie verrichte ihre Notdurft. Und da stehen sie schon, wie Schachfiguren, als hätte eine Geisterhand sie für Ruth dorthin gestellt. Der König, die Königin und der Läufer. Der nachlässig gekleidete grauhaarige Mann mit Bauchansatz blinzelt in die Abendsonne, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Eine Frau mit schulterlangem Haar, Ruth kann sie nur von hinten sehen, sprengt den Rasen. Ein etwa sechsjähriges Mädchen übt Seilspringen. In der Ferne das Rauschen der Autobahn.
    Ruth hockt im Gebüsch und schaut. Das Kind springt, als hätte es einen Motor eingebaut. Seine Zöpfe hüpfen auf und ab.
    Ruth werden die Beine steif, in ihren Zehen beginnt es zu prickeln. Was tue ich hier?, fragt sie sich erstaunt, als sei sie in eben diesem Augenblick aus dem Koma erwacht.

Informationen zum Buch
    Die Frau und der Magier: Eine Wiener Schmuckdesignerin, lebenslustig, sinnlich und politisch aktiv, erfährt, dass der Mann, dem sie einst verfallen war, nicht der gewesen sein kann, für den sie ihn hielt. Eine Frau hat sich seinetwegen das Leben genommen, eine andere ist an ihm zerbrochen. Auch ein Kind soll er haben, von dem Ruth nichts weiß. Und obwohl sie die Ehe mit ihm längst abgehakt hat, macht sie sich jetzt, Jahre später, auf die Reise, um die Geheimnisse, die ihn umgeben, zu lüften. Die Spuren, die sie unterwegs findet, führen immer wieder ins Leere.
    Während sie versucht, ihrer komplizierten Beziehung zu diesem charismatischen Mann auf den Grund zu gehen, rekapituliert sie ihr eigenes Leben – Beziehung zur Mutter, Männergeschichten –, um die Sollbruchstelle zu finden, den Punkt, an dem sie sich so vollständig an ihn verlieren konnte. Hat Michaël ihre Liebe seinem fanatischen Engagement für Kriegsflüchtlinge geopfert – oder eher seinem Machtwillen und Größenwahn? Sie hadert mit ihm, verlangt eine Erklärung – und steht schon wieder im Bann dieses gefährlichen Mannes …
    Ein fesselnder Roman um eine obsessive, zerstörerische Liebe.

Informationen zur Autorin
    Erica Fischer wurde 1943 im englischen Exil ihrer Eltern geboren, die nach dem Krieg mit ihren beiden Kindern nach Österreich zurückkehrten, wo Erica Fischer später Sprachen studierte und zu einer der Gründerinnen der Neuen Frauenbewegung Österreichs wurde. Seit 1988 lebt sie als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Deutschland, seit 1994 in Berlin.
    Ihre dokumentarische Erzählung