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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition)
Autoren: Erica Fischer
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stellen.»
    Sie erwartet keine Antwort und erhält auch keine.

18
    Ein Jahr ist seit ihrem Abenteuer mit Benedetto vergangen. Ihre damalige Leichtigkeit ist längst wieder verflogen. Wien ist nicht Neapel. Hier wird sie von der Schwere ihrer jungen Jahre eingeholt. Die Zeit des feministischen Aktivismus ist nur noch eine wehmütige Erinnerung. Die Menschen haben sich in Paarbeziehungen eingebunkert. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Es herrscht eine Stimmung wie in den fünfziger Jahren. Michaël ist in ihrem Leben nur noch ein unangenehmer Nachgeschmack. Ruth spricht nicht mehr über ihn. Neues gibt es nicht zu erzählen, und auch die seltsame E-Mail-Geschichte ist durchdekliniert.
    Ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen über das Begräbnis einsamer Menschen erregt ihre Aufmerksamkeit. Wenn beim Tod eines Menschen keine Verwandten ausfindig gemacht werden können, die für das Begräbnis aufkommen, wird derjenige auf Kosten der Stadt kremiert und in eine Urne gesteckt, die namenlos in den Boden eingelassen wird. Bald ist Gras darüber gewachsen. Der Name des Verblichenen und die Stelle, wo die Urne in der Erde ruht, werden amtlicherseits festgehalten, für den Fall, dass sich doch noch ein Angehöriger meldet. So werde auch ich sterben, denkt Ruth. Aber wo ihre sterblichen Überreste begraben werden, ist ihr egal, ebenso, wie es ihren Eltern egal war. Ruth fürchtet sich nur vor der Einsamkeit – schon viele Jahre vor dem Tod. Ob es damit jetzt anfängt? Ein paarmal hat sie sich im Internet nach einem Liebhaber umgeschaut und nach ein paar vergeblichen Versuchen aufgegeben.
    Ihre Fähigkeit, so scheint es ihr, ohne Menschen auszukommen, wird immer größer. Sie übt sich in Resignation. Nicht mehr nach dem Leben zu gieren kann auch entlastend sein. Sich eingestehen, dass es vorbei ist. Es wäre so still in der Wohnung, wenn es Radio und Fernsehapparat nicht gäbe. Im Schlafzimmer, in der Küche, im Badezimmer, überall hat sie Radios stehen. Wenn sie nachts nicht schlafen kann, ist die Stille wie ein reißendes Tier. Sie hört das Rauschen des Blutes in ihrem Kopf und spürt die feuchte Hitze unter der Bettdecke. Andauernd ist sie erkältet. Die Nase läuft und ist gleichzeitig trocken. Alle Körperöffnungen sind trocken. Was soll’s, denkt sie, soll ich doch eintrocknen. Jeden Tag schaut sie sich im Spiegel an und denkt, ist doch gar nicht so schlecht, schaust ja noch passabel aus. Aber wie wird es in fünf Jahren sein? In zehn? Wie lange noch wird sie Arbeit finden und sich die Wohnung leisten können? Ihr Denken ist aufs Altern eingestellt, diese gigantische Anstrengung, das Leben abzuwickeln, Ballast abzuwerfen. Wie absurd, denkt Ruth, zu leben, nur um das Leben halbwegs in Würde zu Ende zu führen. Kein Jetzt. Natürlich gibt es ein Jetzt, widerspricht sie sich, das Leben von Tag zu Tag, die Arbeit, die Freude über einen neuen Auftrag, die Freude über die Freude einer Kundin, wenn sie ihr das fertige Schmuckstück überreicht. Ist das etwa nichts? Ein Abend mit Barbara und Erika, ein guter Film mit Heike. Einmal hat Heike sie dazu angehalten, alle ihre Freundinnen und Bekannten kreisförmig um sich selbst auf einem großen Blatt Papier anzuordnen. Das Ergebnis war verblüffend: Von Einsamkeit im landläufigen Sinn keine Spur.
    «Es wird schon wieder werden», redet ihr Heike zu. Sie weiß, wovon sie spricht. Auch bei ihr hat es nie ein gleichförmiges Fortschreiten gegeben, stets eine nur dann und wann von Phasen der Zufriedenheit unterbrochene Unruhe.
    Es wird schon wieder werden, wiederholt Ruth folgsam, glauben kann sie es nicht.

    Ein Traum reißt sie aus ihrer Lethargie: Ruth sitzt an ihrem Arbeitstisch und feilt an einem Werkstück. Eine Frau tritt ein. Sie trägt ein eng anliegendes schwarzes Kostüm, hohe Absätze und hat dunkles, zu einem Dutt am Hinterkopf geknotetes Haar. Streng sieht sie aus und spricht eine Sprache, die Ruth nicht versteht. Dennoch können sie sich wundersamerweise verständigen. Die Frau fragt, ob Ruth einen sehr kostbaren Stein verarbeiten kann. Sie zieht aus ihrer Handtasche ein Schächtelchen, das sie langsam öffnet und Ruth unter die Nase hält. «Ein Saphir aus Kaschmir, der Edelstein des Himmels und der Treue», sagt sie. «Kornblumenblau», haucht Ruth und legt ihn ehrfürchtig auf ihre Handfläche. Noch nie hat sie einen so schönen Stein gesehen. «Was soll ich Ihnen daraus machen? Eine Brosche? Einen Anhänger? Einen Ring?» – «Zeigen Sie
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