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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition)
Autoren: Erica Fischer
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polnischen Akzent. Sie redete ohne Unterlass auf Michaël ein, insofern ähnelte sie seiner eigenen. Während er aber deren Geschwätz nicht ertragen konnte, brachte er für Ruths Mutter erstaunlich viel Geduld auf. Als sich Ruth endlich blicken ließ, erkannte sie an seinem gequälten Blick, an den geröteten Augen, dass er mit den Nerven am Ende war.
    Sie hatten der Mutter ein Zimmer ihrer kleinen Wohnung abgetreten. Und obwohl Ruth sie gewarnt hatte, dass sie auch während ihres Aufenthalts würden arbeiten müssen, das Geld sei knapp, zog ihre Mutter es vor, sich mitten in ihrem gemeinsamen Arbeitszimmer niederzulassen. Manchmal las sie eine Weile, aber selbst wenn sie den Mund hielt, war ihre Anwesenheit für Ruth so stark spürbar, dass an Arbeiten nicht zu denken war. Sie konnte nicht die nötige Konzentration aufbringen, um ihre Hand sicher zu führen.
    Wahrscheinlich fühlte sich Michaël zu dieser ungewohnten Freundlichkeit verpflichtet, weil Ruths Mutter Jüdin war. Er beneidete Ruth um das Privileg der Unschuld. Und Ruths Mutter war nicht nur Jüdin, sondern auch Kommunistin, eine, die sich selbst durch den Stalinismus nicht von ihren Überzeugungen abbringen ließ. Ruth ärgerte sich darüber, hatte als Jugendliche stets unter der Unfähigkeit ihrer Mutter gelitten, einmal eingenommene Positionen zu revidieren. Sie war wie ein Kind, das mit dem Fuß stampft und sagt: Jetzt erst recht. Eine Mutter zu haben, die nicht erwachsen werden will, ist schwer für eine heranwachsende Tochter. Ruth konnte ihre Mutter nicht ernst nehmen und erwartete nichts von ihr. Nicht einmal die Schoa, in der sie einen Großteil ihrer Familie verloren hatte, war für die Mutter Anlass, ihre Grundsätze zu ändern. Die Juden sollten sich in der Gesellschaft, in der sie lebten, assimilieren, so würde sich der Antisemitismus von alleine legen. Von Israel wollte sie nichts wissen, die Juden hätten dort nichts zu suchen, sagte sie.
    Insofern war Ruths Mutter Michaël in vielen Punkten sympathisch, ähnelte er ihr doch in mancher Hinsicht. Wenn er darauf bestand, die Vorzüge der DDR zu rühmen und die deutsche Wiedervereinigung zu verdammen, war Ruth sogar zu Widerspruch fähig.
    «Du wärst der Erste gewesen, den sie nach Bautzen in den Knast gesteckt hätten», sagte sie. «Mit Anarchisten wie dir haben sie dort kurzen Prozess gemacht.»
    Darauf wusste Michaël dann ausnahmsweise einmal nichts zu entgegnen.

    Der Zauber von Meerwijk wirkt immer noch, die putzigen Häuser auf dem Deich, die Kopfweiden, das viele Wasser, der weite holländische Himmel.
    «De Oude Taverne», die Bushaltestelle direkt vor der Tür, hat geöffnet, es ist Mittagszeit, und etliche Touristen haben ihren Weg in das Städtchen gefunden, in erster Linie Deutsche. Angeboten wird wie eh und je Erbseneintopf, so steht es draußen an der Tafel. Und wieder verspürt Ruth einen Stich, was ist aus dem eingeschworenen Paar geworden, das hier einkehrte? Die Verbekes wird sie wohl nicht antreffen, gewiss haben sie die Kneipe längst verpachtet. Ruth will erst einmal einen Minztee trinken.
    Ein Glöckchen klingelt beim Öffnen der Tür. Drinnen bricht gerade ein Sturm los. Zwei Hunde, von ihren Besitzern mit Mühe zurückgehalten, stürzen sich mit Wutgeheul aufeinander. Ein kleines Kind steht da mit vor Entsetzen geweiteten Augen. Dann beginnt es zu schreien. Die Mutter erhebt sich so plötzlich, dass hinter ihr der Stuhl umfällt, stürzt auf das plärrende Kind zu, nimmt es in die Arme. Ruth bleibt wie angewurzelt stehen. Die Hunde haben sich auf ein Kommando unter ihre jeweiligen Tische verkrochen und lassen nur noch bedrohliches Knurren vernehmen. Aus der Ferne mustern sie jeweils den Feind mit wütenden Blicken. Das Kind gibt im Arm der Mutter nur noch ein paar erstickte Seufzer von sich. Auch zwischen den Hundebesitzern und den Eltern des Kindes werden feindselige Blicke gekreuzt. Ruth steht immer noch unschlüssig in der Tür und fühlt sich irgendwie schuldig, das heillose Durcheinander durch ihren Eintritt ausgelöst zu haben. Eine Kellnerin in roter Weste und weißer Bluse wischt den Tisch sauber, eine Teetasse ist umgekippt. Die hässlichen Tischtücher aus dem braungrünen Stoff sind verschwunden, dunkelbraun glänzen die Tischplatten im Kerzenlicht.
    Ruth schaut sich nach einem freien Tisch um. Und da sieht sie ihn. Vom Geschehen ungerührt, sitzt er an seinem Stammtisch in der Ecke: Verbeke. Teilnahmslos sieht er Ruth an, erkennt sie nicht. Ruth
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