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Mein Bild sagt mehr als deine Worte

Mein Bild sagt mehr als deine Worte

Titel: Mein Bild sagt mehr als deine Worte
Autoren: David Levithan
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immer noch kein klares Bild machen konnte. Wir befanden uns nach wie vor im Wald, das ja. Und da war eine Gestalt. Aber wer? Oder was? Es hätte auch Bigfoot sein können, der mich anstarrte.
    Vergrößerung, das brauchte ich. Wenn ich nämlich weiter so auf das Foto starrte, würde es nur noch aus den Geschichten bestehen, die ich mir dazu ausdachte, und ich würde nie mehr zur Wahrheit zurückfinden.
    »Ist das wieder eine deiner Geschichten? Sag, dass das nicht wahr ist«, sagte deine Mutter.
    Ich rannte ging nach Hause und durchwühlte die Schubladen. Ich brauchte ein Vergrößerungsglas. Warum wir so etwas überhaupt haben sollten, wusste ich nicht. Irgendwie war ich der Meinung, dass ein Vergrößerungsglas in jeden ordentlichen Haushalt gehörte. Hammer, Eieruhr, Vergrößerungsglas. Ich zog Schubladen auf, die ich seit Jahren nicht mehr aufgezogen hatte. Ganz oben in meinem Schreibtisch entdeckte ich Briefmarken, die schon längst nicht mehr gültig waren, ausgetrocknete Stempelkissen, einen ganzen Radiergummizoo mit Figuren aus einem Tiercomic. Es war, als wäre meine gesamte über Bord geworfene Kindheit in dieser Schublade angespült worden. Ohne dass ich es ahnte. Doch auch hier kein Vergrößerungsglas.
    Aber ich habe immer noch deine Sonnenbrille. Du hast sie bei mir liegen lassen. Das bedeutet vermutlich, dass sie jetzt mir gehört. Ich würde sie dir ja gern zurückgeben, wenn ich könnte: Sie liegt auf meinem Schreibtisch für dich bereit. Ich bringe es nicht über mich, sie wegzuräumen. Mir steht sie nicht. Ich weiß noch, wie ich sie einmal aufgesetzt habe und du gelacht und gesagt hast, es gäbe keine einzige Sonnenbrille auf der ganzen Welt, mit der ich nicht wie ein Idiot aussehen würde. Du hast gesagt, ich hätte so ehrliche Augen. Und dass ich nicht versuchen sollte, sie zu verstecken.
    Ich sah in der Küchenschublade nach, in der all die Dinge versammelt waren, die keinen Platz in einer der anderen Küchenschubladen hatten – Topflappen, Schere, Klebestift. Nichts. Ich zog die Schreibtischschublade meines Vaters auf und sinnierte kurz über sein System aus Büroklammern und Vielzweckklemmen. Nichts. Ich zog die Schreibtischschublade meiner Mutter auf – nur alte Visitenkarten und Notizzettel und ein paar Fotos von mir, als ich jünger war, sehr viel jünger, noch klein. Hab ich immer schon so ausgesehen?
    Und dann fing mein Gehirn an, auf sich selbst wütend zu werden. Ich weiß, dass ich schwer von Begriff bin. Ich weiß, dass ich blöd bin. Hör auf, mir das immer zu sagen. Ich weiß es. Denn die Antwort hatte die ganze Zeit auf der Hand gelegen.
    Ich fuhr den Rechner hoch. Stellte den Scanner an. Legte das Foto auf die Scannerscheibe. Drückte ein paar Knöpfe. Drehte mich vom Licht weg.
    Der Scanner übersetzte das Foto in Pixel. Danach übersetzte er die Pixel in Nullen und Einsen. Dann übersetzte er die Nullen und Einsen wieder in Pixel, die auf dem Bildschirm erneut zu einem Bild angeordnet wurden.
    Ich klickte auf Zoom.
    Noch einmal.
    Und noch einmal.
    200 Prozent.

    Und noch einmal.

    Und noch einmal. Und noch einmal. Ich klickte weiter, bis das Foto zerstört war, bis es nur noch ein Mosaik aus grauen Flächen war, die sich zu nichts mehr zusammensetzen ließen. Nichts. Hatte ich mich nicht an dem Tag genau so gefühlt? Wenn man immer weiterzoomt – jemandem wirklich nahe kommt, wenn man sich selbst ganz nahe kommt –, dann verliert man den anderen, verliert man sich selbst. Verliert man sich ganz in sich selbst. Man rückt so nahe heran, dass man nichts mehr erkennen kann. Im Gehirn befinden sich dann nur noch abstrakte Fragmente. Englisch wird zu Mathe.

    Ich zoomte, bis nur noch Rechtecke übrig waren. Erst sechzehn. Dann sechs. Dann vier.
    Weniger als vier schaffte der Computer nicht.

    Die vier Rechtecke sagten mir die Wahrheit. Ich konnte nicht mehr erkennen, von welchem Teil des Fotos sie stammten. Es konnte sich dabei um Blätter handeln. Um meine Haare. Meine Haut. Den alten Fotoapparat in meinen Händen. Die Erde. Alles, was ich wusste, war, von welchem Tag sie stammten. Jeder Zweifel war ausgeschlossen.
    An dem Tag war noch jemand anders da gewesen.
    Jemand hatte uns gesehen.

4 C
    Ich hätte Jack anrufen sollen, hätte es ihm erzählen sollen … aber ich tat es nicht. Noch nicht. Ich hatte Angst davor, dass er glauben würde, ich wäre jetzt auch verrückt geworden. Ich wusste nicht, was er tun würde, wenn er mich untergehen sah. Ob er mich vielleicht nur dann
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