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Mein Bild sagt mehr als deine Worte

Mein Bild sagt mehr als deine Worte

Titel: Mein Bild sagt mehr als deine Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Levithan
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dritten Stunde zurückrannte, war der Umschlag verschwunden.
    Aber es lag stattdessen nichts anderes da.

3 C
    Ich sah in der Mittagspause nach. Ich sah nach, als die Schule aus war.
    Alles war unverändert. Die Stelle war leer. Es herrschte Leere. Nicht nichts. Nichts bedeutet, dass tatsächlich absolut nichts vorhanden ist, und dieses Nichts ist ganz natürlich, ein vollständiges Vakuum. Aber Leere – bei Leere ist man sich ständig bewusst, dass eigentlich etwas da sein sollte. Leere bedeutet, dass etwas fehlt.
    Wieder einmal verfärbte sich alles grau. Meine Stimmung. Das Licht um mich herum änderte seine Eigenschaften. Ich versuchte, die Dämmerungsstufen bewusst wahrzunehmen. Aber es geschah unmerklich.
    Ich machte mich auf den Heimweg. Auf dem normalen Weg.
    Ich war gerade dabei, in meinem Kopf Wörter zueinander in Beziehung zu setzen, da sah ich ihn. An einen Telegrafenmast genagelt. Einen weiteren Umschlag.
    Nicht mit Klebeband angeklebt. Nicht angetackert. Genagelt. Auf Augenhöhe. Genau auf der Höhe meiner Augen.
    Ich fragte mich, wie lang er dort schon hing. Warum niemand anders ihn gesehen hatte. Ich überlegte, ob ich auf dem Weg zur Schule schon daran vorbeigekommen war. Ohne ihn zu entdecken, weil ich nicht zurückgeschaut hatte.
    Vor allem aber fragte ich mich, was er wohl enthielt.
    Aus irgendeinem Grund erwartete ich eine Antwort auf die Frage, die ich gestellt hatte: Wer bist du? Wer auch immer das Foto von mir gemacht hatte, sollte sich jetzt mit einem Foto von sich selbst outen.
    Stattdessen bekam ich noch mehr Bäume. Mit einer Mauer, die sich zu einem Bogen wölbte.

3 D

3 E
    Ich musste sofort in den Wald zurück, auf der Stelle. Ich würde dich dort nicht finden. Ich wusste, dass ich dich dort nicht finden würde. Es konnte kein Zufall sein, dass genau dieser Mast ausgesucht worden war. Zufall. Dinge, die einem zufallen . Der Waldsaum befand sich rechts. Ich hatte mich von dieser Seite noch nie in den Wald vorgewagt, oder? aber ich stellte mir vor, dass er hier nicht viel anders sein würde. Und mit stellte mir vor meine ich, dass ich es mir wirklich vorstellte – ich schickte einen mentalen Suchtrupp zu einem Spaziergang in den Wald los, bevor ich selbst auch nur einen einzigen Schritt machte. Ich malte mir alles aus, als würde ich es wirklich sehen. Und aus dem kleinen Mauerabschnitt, den wenigen Steinen, die ich auf dem Foto sehen konnte, erbaute ich ein ganzes Schloss. Ich malte mir aus, dass in der Mitte des Waldes eine große Burg stand – in der aber kein Dornröschen schlief, sondern der Geist von Dornröschen umging. Ihr Körper war nämlich seit Langem zu Staub zerfallen, wie um zu beweisen, dass alle Schönheit vergänglich ist, außer vielleicht in Märchen und Erzählungen. Mein Denken driftete wieder einmal ab und widerwillig zerrte ich es in die Wirklichkeit zurück. Es gibt keine Flucht aus der Wirklichkeit. Oder wenn, dann nur einen einzigen Weg. Ich wusste, dass es in diesem kleinen Vorstadtdickicht keine Burgen oder Schlösser gab. Du, Jack oder ich hätten sie sonst schon längst entdeckt. Wir kannten uns hier aus.
    Wir haben hier unsere Kindheit verbracht.
    »Ariel!«, rief ich jetzt laut, genauso wie ich damals immer gerufen habe. Wenn wir Verstecken gespielt haben. Wenn ich nach dir gesucht habe.
    Erinnerst du dich?
    Du hast nie eine Antwort gegeben. Jedenfalls nicht mit Worten. Manchmal hast du einfach nur von deinem Versteck, wo auch immer es war, zu mir hingesehen, und diese winzige Bewegung half mir dabei, dich zu finden. Manchmal hast du abgewartet. Und wenn es dann zu dunkel wurde und ich dich nicht gefunden hatte, wusste ich, dass ich nur zu eurem Gartentor zu gehen brauchte. Wenn du dort noch nicht auf mich gewartet hast, habe ich auf dich gewartet. Du bist immer zurückgekommen. Bis die Sache zwischen dir und Jack anfing. Eine Zeit lang hab ich immer noch auf dich gewartet. Obwohl ich wusste, dass ihr beide zusammen irgendwo wart, vielleicht sogar drinnen im Haus. Dann hörte ich auf zu warten.
    Es wurde immer finsterer. Mit dieser Unwegsamkeit war ich nicht vertraut. Ich stolperte durch den Wald, verirrte mich, hinterließ meine eigene in die Irre leitende Spur. Dann kam ich auf eine Lichtung. Nicht die Stelle, nach der ich gesucht hatte, aber ein anderer Ort – ein Ort, an den ich mich erinnerte. Du und ich waren hier schon einmal gewesen, an genau so einem Tag, an dem die Wolken zu schwer über dem Boden hängen, zu tief in die Gedanken

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