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Mein Bild sagt mehr als deine Worte

Mein Bild sagt mehr als deine Worte

Titel: Mein Bild sagt mehr als deine Worte
Autoren: David Levithan
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entschieden, den Umschlag wahrzunehmen. Ich hab den Umschlag auf dem Boden liegen sehen. Ich hätte ihn dort liegen lassen sollen. Mir wäre es lieber gewesen, in Ruhe gelassen zu werden. Ich wollte allein sein. War ich auch. Ich blieb stehen und hob ihn auf. Ich konnte spüren, dass sich darin etwas befand. Ich beschloss, den Umschlag zu öffnen.
    An dich hab ich dabei nicht gedacht.

    Es war darauf alles sehr klein. Ich musste den Blick fokussieren. Ich konnte nicht fokussieren, ohne mir extra zu sagen, dass ich fokussieren musste. Die Augen nehmen nur Farben und Konturen wahr. Die Bilder werden an das Gehirn übermittelt, das sie übersetzt. Zuerst sah ich die Bäume, dann den Himmel. Es kam mir nicht bekannt vor. Das Gehirn gleicht die Übersetzung mit den Erinnerungen ab, die es gespeichert hat. Ich konzentrierte mich auf die vier kahlen Stämme, die wie herrenlose Tischbeine in der Gegend herumstanden. Diese Bäume kannte ich – ich blickte vom Foto auf, und da standen sie in Wirklichkeit vor mir, kaum zehn Meter entfernt. Ich ging bis zum ersten kahlen Stamm, aber das brachte mich nicht weiter. Ich musterte den Umschlag. Keinerlei Hinweise. Keine Adresse und kein Absender. Ich musterte ihn noch einmal. Beinahe hätte ich ihn zurückgelegt. Aber der Himmel bewölkte sich. Er war jetzt beinahe so grau wie der Himmel auf dem Foto. Den Umschlag einfach liegen zu lassen, war keine Lösung. Es würde gleich zu regnen anfangen.
    Ich blickte auf die anderen Bäume. Hielt das Foto gegen die Wirklichkeit und bestimmte meinen Platz darin. Doch ich vermisste etwas. Oder vielleicht war auch etwas zusätzlich vorhanden. Ich war da. Auf dem Foto nicht. Deshalb war das Foto die Vergangenheit. Ich war die Gegenwart. Von wo aus war das Foto aufgenommen worden?
    Ich drehte mich um und sah meine Schule. Ihre Fenster. Wie sie mich beobachteten.
    Nichts preisgaben.
    Irgendwas? Etwas?
    Ich steckte das Foto zurück in den Umschlag. Ich legte den Umschlag nicht wieder zurück. Ich behielt es. Und hätte es genauso gut auch vergessen können. Vielleicht irgendwann einfach wegwerfen oder es so lange in meinem Rucksack lassen, bis es abgestoßen und zerknittert war. Ganz unten, zusammen mit den ungekauten Kaugummis, die aus der Packung gerutscht waren. Ich hätte das Foto am Tag darauf auch Jack oder sonst irgendjemand aus der Schule zeigen können. Früher hätte ich es zuerst dir gezeigt. Wir hätten mit den Schultern gezuckt und wären danach zum nächsten Thema übergegangen. Die Geschichte wäre sehr, sehr bald zu Ende gewesen.
    Reiner Zufall, hätten wir gesagt.
    Zufall.
    Was bedeutet:
    Komplett ohne Muster.
    Oder:
    Komplett ohne erkennbares Muster.
    Was bedeutet:
    Entweder gibt es für das Ereignis kein Muster.
    oder:
    Wir sind unfähig, das Muster zu verstehen.
    Ich faltete den Umschlag einmal, wobei ich darauf achtete, dass das Foto nicht mitgefaltet wurde.
    (Ich bemühe mich, aufmerksam zu sein. Meistens ist meine Unaufmerksamkeit vollkommen unbeabsichtigt.)
    Ich blickte mich noch einmal um. Ich stand genau in der Mitte zwischen den Bäumen.
    Dann ging ich nach Hause, und meine Konzentration ließ nach, und das Trommelfeuer in meinem Kopf setzte wieder ein.
    Du kannst nie mehr glücklich sein. Warum auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden?
    Fünf Minuten nachdem ich das Foto gefunden hatte, fing es zu regnen an.
    Der Schmerz ist alles, was du hast.
    Ich denke:
    Wenn ich nur fünf Minuten später da gewesen wäre, hätte es bereits geregnet wenn es nur fünf Minuten später gewesen wäre, wäre ich durch den Regen nach Hause gerannt, ohne den Umschlag zu bemerken
    wenn ich nur fünf Minuten später dran gewesen wäre, wären der Umschlag und das Foto durchnässt gewesen, ruiniert.
    Ich denke:
    Wenn ich fünf Minuten später da gewesen wäre, wäre nichts von all dem passiert.
    Ich weiß:
    Es wäre auch so passiert. Nur vielleicht etwas anders.

1 B
    Ich wachte um zwei Uhr morgens auf und fühlte mich schuldig, weil ich dich nicht gefragt hatte, was du dir dieses Jahr zum Geburtstag wünschst.

2
    Am nächsten Morgen kehrte ich noch einmal an dieselbe Stelle zurück. Ich sagte mir vorher nicht extra, dass ich es tun würde. Ich ging einfach hin. Der Himmel war immer noch bewölkt; die Sonne war bereits aufgegangen, aber ich konnte sie nicht sehen. Es war, als hätte der Tag keine Stunden. Ich wusste nur deshalb, dass es Morgen war, weil ich mich so müde fühlte.
    Ich hatte kaum geschlafen. Ich kann nie mehr richtig
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