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Mein Bild sagt mehr als deine Worte

Mein Bild sagt mehr als deine Worte

Titel: Mein Bild sagt mehr als deine Worte
Autoren: David Levithan
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bekam eine ungefähre Ahnung davon, wie ich wohl in dem Moment ausgesehen haben muss. Wenn man sagt, jemand sähe aus, als hätte er einen Geist gesehen, macht es keinen Unterschied, ob dieser Geist wirklich existiert oder ob es sich um bloße Einbildung handelt. Der Gesichtsausdruck ist derselbe. Als hätte derjenige auf einmal dem Tod ins Antlitz geschaut und bliebe verstört zurück.
    »Wo hast du das her?«, fragte Jack. Er nahm mir das Foto nicht aus der Hand. Er wollte es nicht anfassen.
    »Es war in meinem Spind«, sagte ich. »Jemand hat es da reingetan.«
    »Wer?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Weißt du nicht?«
    »Ich weiß es nicht. Auf alle Fälle muss der- oder diejenige meinen Zahlencode kennen. Das Foto klebte an der Innenseite der Tür.«
    »Und wer kennt deinen Zahlencode?«
    »Ariel war die Einzige.«
    Ich hatte ihn dir erklärt.
    18 – das Alter, in dem ich aus dieser Schule hier rauskomme
    zweimal nach links
    74 – 4. Juli
    einmal nach rechts
    90 – die Anzahl der Bierflaschen auf der Mauer, nachdem neun runtergefallen waren
    »Sie hat ihn mir nie gesagt«, sagte er, »nur falls du glaubst, ich hätte ihn irgendjemandem weitergesagt.«
    »Sie ist total aufgestylt«, sagte ich.
    »So hab ich sie nie gesehen«, sagte er. »Sie wirkt völlig fremd.«
    Sogar wenn ich mir das Foto von ganz nah anschaute, konnte ich nicht erkennen, ob du darauf glücklich warst. Ich hatte dich direkt vor mir und hätte es nicht sagen können. Als ob dein Glücklichsein der entscheidende Hinweis darauf gewesen wäre, wann das Foto aufgenommen worden war.
    Auf oder ab? Warst du da in einem Hoch oder in einem Tief?
    »Ich würde mich daran erinnern«, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu Jack. »Ich würde mich erinnern, wenn ich sie jemals so gesehen hätte.«
    Er streckte die Hand aus, und ich zögerte eine Sekunde, bevor ich ihm das Foto gab. Als könnte er es zerreißen. Oder für sich allein haben wollen.
    Ich überlegte einen Augenblick, was er wohl später seinen Leichtathletikfreunden erzählen würde; warum ich ihn hierhergelotst hatte. Aber vielleicht fragten sie ihn ja auch gar nicht. Jack hatte mich immer schon verunsichert und das war jetzt noch viel stärker geworden. Ich konnte nie so recht glauben, dass wir wirklich Freunde waren. Es kam mir immer so vor, als hätte er in die Freundschaft zwischen dir und mir eingeheiratet, als er dein Freund wurde. Jack und ich waren nie gute Freunde – wir waren höchstens Stieffreunde.
    Trotzdem, seit du nicht mehr da bist, ist er der Mensch, dem ich mich am meisten verbunden fühle.
    Ich beobachtete, wie er das Foto musterte. Dich.
    »Es ist im Wald«, sagte er schließlich. »Sie muss da mit irgendjemand im Wald gewesen sein.«
    Keinem von uns beiden.
    Jemand anders.
    Ich fühlte mich innerlich so leer, dass die Leere für uns beide ausreichte. Und ich war mir sicher, er fühlte sich innerlich auch so leer, dass es für uns beide ausreichte. Das bedeutete eine vierfache Leere, die uns kein Stück klüger machte.
    »Es ist dieselbe Person, die auch die anderen Fotos gemacht hat«, vermutete Jack. »Aber wir wissen nicht, wer es ist.«
    Ich nickte.
    »Oh Mann«, sagte er. »Das ist total krank.«
    Bist du dir sicher, dass nicht sie dahintersteckt?, hätte ich am liebsten gefragt. Aber ich wusste, was er antworten würde. Das war der Unterschied zwischen uns beiden. Etwas in mir wollte Geister sehen, weil ich dann zumindest etwas spürte, das irgendwie noch von dir ausging. Bei ihm war das anders: Er hatte alles in sich eingekapselt. Sich abgekapselt. Bis auf die Male, wenn ich alles wieder aufrührte.
    »Du musst mir helfen«, sagte ich. Wenn ich schon nicht mit dir reden konnte, dann wollte ich wenigstens mit ihm so reden, wie ich mit dir geredet hätte.
    »Okay«, sagte er. »Okay.«
    Aber danach sagte er nichts mehr, und ich wusste, dass es meine Aufgabe war, herauszufinden, was wir jetzt tun sollten.

6 G
    Am Abend habe ich stundenlang dein Foto angestarrt.

    Aber ich habe nichts von dir erfahren.

6 H
    Ich erinnerte mich daran, wie wir einmal Zeitschriften durchgeblättert hatten. Da war ein Foto von einem Model, das eiskalt und unnahbar wirkte, total kontrolliert. Ich hab es dir gezeigt, und du hast gesagt: »Genau das macht ein gutes Foto aus. Du glaubst, dass du weißt, was in ihrem Kopf vorgeht. Aber in Wahrheit? Egal, wie gut ein Foto ist, du weißt nie, was jemand gerade denkt. Es gibt keinen Weg von hier« (du hast auf das Zimmer gedeutet) »nach da« (du
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