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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
Autoren: Bill Bryson
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sich auch nicht an einen erinnern würden, wenn sie einen schon mal gesehen hätten. Walgreen’s führt Männermagazine, habe ich zu meiner Freude bei meinem letzten Besuch entdeckt, aber die sind in Plastiktüten versiegelt, so dass es heute wahrhaftig noch schwieriger ist, Bilder von nackten Frauen zu sehen als damals zu meiner Zeit – was ich nie für möglich gehalten hätte, aber so ist es.
    Alle Innenstadtgeschäfte sind nacheinander verschwunden. Ginsberg’s und das New-Utica-Kaufhaus haben geschlossen. Kresge’s und Woolworth’s ebenfalls. Frankel’s auch. Und Pinkie’s. J.C. Penny eröffnete mutig einen neuen Laden im Zentrum, doch der musste auch wieder zumachen. Das Shops Building hat kein Restaurant mehr. Es wurde jemand überfallen oder einer hat einen geistig verwirrten Obdachlosen oder sonst was gesehen, und schon ging niemand mehr nach Dunkelwerden in die Innenstadt, und alle noch übrigen Restaurants und Nachtclubs schlossen. Und was für eine Schande, dann zog auch noch der Busbahnhof weg!
    Younkers, der große Ozeandampfer von Kaufhaus, wurde praktisch das letzte überlebende Relikt aus den herrlichen Tagen meiner Kindheit. Jahrelang hielt es heroisch an seinem alten braunen Bau im Zentrum fest, wenn es auch ganze Stockwerke schloss und sich in immer winzigere Ecken des Gebäudes zurückzog, um zu überleben. Zum Schluss hatte es nur noch 60 Angestellte, verglichen mit über 1000 in seiner Blütezeit. Und im Sommer 2005 schloss es nach 131 Jahren Geschäftstätigkeit endgültig seine Pforten.

    Als ich klein war, hatten der Register und die Tribune in einem vielleicht 24 mal 18 Meter großen Raum ein enormes Bildarchiv, in dem ich oft eine angenehme halbe Stunde verbrachte, wenn ich auf meine Mutter wartete. Es müssen eine halbe Million Fotos dort gelegen haben, vielleicht mehr. Einerlei, in welche Schublade welchen Aktenschranks man schaute, man fand wirklich Interessantes und Aufregendes aus der Vergangenheit der Stadt – gigantische Brände, entgleiste Züge, eine Dame, die auf ihrem Busen Biergläser balancierte, Eltern, die auf Leitern an Krankenhausfenstern standen und mit ihren poliokranken Kindern sprachen. Das Fotoarchiv enthielt die vollständige Geschichte Des Moines’ im 20. Jahrhundert in Bildern.
    Als ich neulich mal wieder im R & T war und Illustrationen für dieses Buch suchte, entdeckte ich zu meinem Erstaunen, dass sich das Bildarchiv heute in einem kleinen Raum auf der Rückseite des Gebäudes befindet und man fast alle alten Bilder vor ein paar Jahren weggeworfen hat.
    »Sie brauchten den Platz«, sagte Jo Ann Donaldson, die derzeitige Archivarin, mit leicht schuldbewusster Miene.
    Das haute mich fast um. »Sie haben sie nicht der Historischen Gesellschaft von Iowa gegeben?«, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Oder der Stadtbücherei? Oder einer Universität?«
    Sie schüttelte noch zweimal den Kopf. »Sie wurden recycelt – wegen des Silbers in dem Papier«, erzählte sie mir.
    Jetzt sind also nicht nur die meisten Orte verschwunden, sondern es gibt auch kein Zeugnis mehr von ihnen.

    Für die Menschen ging das Leben weiter – oder hörte wie in einigen unglücklichen Fällen auf. Mein Vater reihte sich 1986 ganz unaufwändig in letztere Kategorie ein, als er eines Abends zu Bett ging und nicht mehr aufwachte, was eine ziemlich gute Art zu gehen ist, wenn man gehen muss. Er starb kurz vor seinem 71. Geburtstag. Wenn er für eine größere Zeitung gearbeitet hätte, wäre er einer der großen Baseballjournalisten seiner Zeit geworden, da bin ich sicher. Weil wir in Des Moines blieben, bekam die Welt nie Gelegenheit zu sehen, was er konnte. Er selbst natürlich auch nicht. So oder so – da kann ich mir nicht helfen – wussten beide nicht, was sie da verpassten.
    Meine Mutter blieb in unserem Haus wohnen, so lange es ging, doch schließlich verkaufte sie es und zog in ein hübsches altes Mietshaus in der Grand Avenue. Inzwischen weit über neunzig, ist sie immer noch wunderbar fröhlich, gesund und putzmunter, springt so begeistert auf wie eh und je, um mit Hilfe eines eingetupperten Andenkens hinten aus ihrem Kühlschrank ein Butterbrot zu schmieren. Sie hat immer noch einen riesigen Vorrat an Gläsern unter dem Waschbecken (wenn auch in keines mehr gepieselt worden ist, versichert sie mir) und hortet eine der außergewöhnlichsten Sammlungen an Zuckertütchen, Kräckern und Marmeladen in vielen Geschmacksrichtungen. Sie möchte übrigens zu Protokoll geben,
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