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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
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Glücksbringer-Armband mit den drei zehn-Cent-Stück-großen Scheiben. Charlie, Lucy und Linus.
    Sieh nach links, such links, geh nach links.
    Ich sehe mein Geschenk von Bob. Meinen neuen Glücksbringer. Einen silbernen Hut, verziert mit einem einzelnen Rubin in einer Zargenfassung. Meine Mutter.
    »Danke, Schatz. Das ist wunderschön.«
    Unsere Bedienung bringt uns eine Flasche Shiraz und fragt uns, was wir essen möchten. Wir bestellen beide Kürbisravioli und einen Salat mit Hähnchen. Bob schenkt den Wein ein und erhebt sein Glas.
    »Auf ein erfülltes Leben«, prostet er mir zu.
    Ich lächle und liebe ihn dafür, dass er bereit war, mit mir einen Neuanfang zu wagen, dafür, dass er mit mir dorthin gegangen ist, wohin uns mein Neglect geführt hat, dafür, dass er mein neues Ich versteht. Denn auch wenn ich noch immer auf eine vollständige Genesung hoffe, so habe ich doch gelernt, dass ich mein Leben trotz der Einschränkungen in vollen Zügen genießen kann.
    Wieder sehe ich nach links und finde meine Hand, die mit wunderschönen Symbolen für mich und Bob, unsere Kinder, meine Freundin und jetzt auch meine Mutter geschmückt ist. Mit aller Konzentration, die ich aufbringen kann, erhebe ich mein Weinglas mit der linken Hand.
    »Auf ein erfülltes Leben«, sage ich.
    Wir stoßen an und trinken.
    Ich fahre mit dem Sessellift zum Gipfel des Mount Cortland. Meine Mutter sitzt neben mir zu meiner Rechten. Da setzt sie sich am liebsten hin, damit ich sie auch sicher sehen kann. Sie trägt einen roten Strickschal über einem weißen Pullover, eine schwarze Hose mit elastischem Bund, schwarze Stiefel und einen riesigen, mit roten Blumen verzierten viktorianischen Teehut.
    »Mom, du bist nicht passend angezogen.«
    »Ach nein?«
    »Nein. Und du hast weder Skier noch ein Snowboard dabei. Wie willst du denn diesen Berg hinunterkommen?«
    »Ich bin nur hier, um die Aussicht zu genießen.«
    »Oh.«
    »Und um Zeit mit dir zu verbringen.«
    »Du solltest Snowboard fahren lernen.«
    »Ach nein, es ist zu spät für mich, um mit so etwas noch anzufangen.«
    »Nein, das ist es nicht.«
    »Doch, das ist es. Aber diese Fahrt mit dir hat mir Spaß gemacht.«
    Ich blicke auf und sehe, dass wir uns dem Ende des Lifts nähern. Ich hebe die Stange über unsere Köpfe, drehe mein Brett zur Seite und rutsche auf dem Sitz nach vorn.
    »Denk dran, nach links zu sehen«, erinnert mich meine Mutter.
    Ich wende den Kopf nach links und stöhne auf. Nate und mein Vater sitzen neben mir.
    »Oh mein Gott. Wo kommt ihr denn auf einmal her?«, frage ich.
    »Wir sind die ganze Zeit hier gewesen«, antwortet mein Vater und lächelt mich an.
    Mein Vater und Nate tragen beide rote Skijacken und schwarze Hosen, aber auch sie haben weder Skier noch Snowboards dabei.
    Wir erreichen das Ende des Lifts, und ich rutsche die Rampe hinunter. Nate, mein Vater und meine Mutter gehen voran und steigen ohne mich in einen anderen Lift. Ich sehe zu, wie ihr Sessel immer höher steigt und sich dann im Himmel auflöst.
    »Hey.«
    Ich drehe den Kopf nach links. Es ist Bob.
    »Ihr seid ja auch alle hier«, staune ich.
    Linus sitzt in einem Kindertragesitz auf Bobs Rücken. Lucy steht neben Bob auf ihren Skiern und Charlie vor ihnen auf seinem Snowboard.
    »Natürlich. Wir haben auf dich gewartet.«
    Ich schaue auf die unberührte Piste vor uns, auf das schneebedeckte Tal unter uns und die Green Mountains in der Ferne und genieße das Gefühl der warmen Morgensonne auf meinen kalten Wangen. In der Stille des Gipfels höre ich nichts außer dem Geräusch meines eigenen Atems.
    »Fahren wir«, sage ich.
    Ich drehe die Spitze meines Bretts und beuge mich talwärts vor.
    Gleiten, wenden, gleiten.
    Ich bin friedlich.
    Gleiten, wenden, gleiten.
    Ich bin ganz.
    Gleiten, wenden, gleiten.
    Pst!

ANMERKUNG DER AUTORIN
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    Der linksseitige Neglect, auch bekannt als unilateraler Neglect und Halbseiten-Neglect, ist ein real existierendes neurologisches Syndrom, das aufgrund einer Schädigung der rechten Gehirnhälfte auftritt, beispielsweise infolge eines Schlaganfalls in der rechten Gehirnhälfte, einer Gehirnblutung oder eines Schädel-Hirn-Traumas. Während der Durchschnittsbürger vermutlich noch nie von einem linksseitigen Neglect gehört hat, bekommen Ärzte und Pflegekräfte in Rehakliniken Patienten mit diesem Krankheitsbild durchaus häufig zu sehen. Patienten mit einem linksseitigen Neglect sind nicht blind, aber ihr Gehirn ignoriert Informationen auf der linken
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